Vor den Wien-Konzerten von Rammstein hat der ORF die Aussagen einer Frau veröffentlicht, die Anschuldigungen gegen Till Lindemann erhebt. Offen gesagt: Bei der Reihe von ähnlich klingenden Vorwürfen, die in den letzten Wochen öffentlich gemacht worden sind, tippt man die Tatsache, dass für Lindemann die Unschuldsvermutung gilt, immer widerwilliger in die Tastatur. Aber die Überzeugung bleibt davon unberührt: Die Unschuldsvermutung ist ein hohes Gut, und der Rammstein-Sänger Till Lindemann hat es nicht verdient, vorverurteilt zu werden. Niemand verdient das. Das gilt auch für die Frauen, die die Vorwürfe erheben, wie die Wiener Juristin Sophie Rendl von der Vertrauensstelle vera* betont. Gegen die Anschuldigungen kann man rechtlich vorgehen, sie einfach als Lüge zu bezeichnen, geht allerdings nicht.
Zwischen Cancel-Fantasien und Vorverurteilungen auf der einen und falscher Solidarität und Hohn für mutmaßliche Opfer auf der anderen Seite ist es schwer, noch Augenmaß zu bewahren. Was aber – ungeachtet, ob die Vorwürfe wahr sind oder nicht – verstörend ist, ist die Art und Weise, wie Lindemann immer wieder in Schutz genommen wird.
Gewisse Denkmuster haben sich hartnäckig in die Gesellschaft eingenistet. Mutmaßliche Opfer werden als naiv und weltfremd dargestellt. Das Klischee, dass Frauen mit ihrem Verhalten sexuelle Gewalt provozieren, feiert Urständ’. Und wenn eine Frau sich traut, an die Öffentlichkeit zu gehen, wird sie verbal fertiggemacht. Das kommt einem alles sehr bekannt vor.