Seit 2003 verantworten Sie Tanzproduktionen als Kuratorin und künstlerische Leiterin an mehreren deutschen Theaterhäusern, seit 2022 sind Sie künstlerische Leiterin am Festspielhaus St. Pölten. Die richtige Adresse also für die Frage: Worum geht es heute im Tanz?
Bettina Masuch: Das ist nicht einfach zu beantworten, denn da stellt sich zuerst die Frage, was man genau meint, wenn man von Tanz spricht. Es gibt eine Vielzahl von Stilrichtungen, klassischer Tanz, Modern Dance, Urban Dance oder was auch immer. Es ist ja nicht einmal von vornherein klar, ob alle dasselbe meinen, die etwa vom klassischen Tanz sprechen. So hat jeder eine ganz spezifische Idee von "Schwanensee". Es gibt viele künstlerische Handschriften und im Festspielhaus St. Pölten möchten wir die ganze Bandbreite abbilden.
Ein Charakteristikum im klassischen Tanz ist "Virtuosität". Geht es darum noch in anderen Formen?
Durchaus, etwa im Urban Dance oder auch im neuen Zirkus, wo eine andere Art von Körperbeherrschung perfektioniert wird. Israel zum Beispiel ist ein spannendes Tanzland, wo man unterschiedliche Entwicklungen sieht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele europäische Tänzerinnen und Tänzer im Nationalsozialismus dorthin emigriert sind. Man sieht da eine interessante Entwicklung des europäischen Ausdruckstanzes der Tanzmoderne in Verbindung mit Volkstanzelementen. Das führt zu einer ganz anderen Form von Virtuosität, die hochsportlich und energetisch ist, aber im Vergleich zum klassischen Tanz eine gewisse Erdenschwere hat. Schon beim Ausdruckstanz der 1920er- und 1930er-Jahre konnte man sehen, dass die Bewegungen tendenziell in den Boden gerichtet sind und nicht in den Himmel. Spannendes aus Israel kommt etwa von Hofesh Shechter, Sharon Eyal oder Ohad Naharin, alle sehr individuell in ihrer Bewegungssprache. Und dann geht es heute auch um die Frage, wie wir eigentlich auf Tänzerkörper schauen? Der Körperdiskurs ist sehr stark geworden. War es früher etwa undenkbar, dass eine nichteuropäische Tänzerin in "Schwanensee" tanzt, wird das heute offensiv diskutiert und bejaht.
Hat der klassische Tanz noch eine Berechtigung?
Absolut. Er ist als Formsprache immer noch sehr wichtig, ebenso als Trainingsmethode. Und natürlich ist er auch strukturell abgesichert, weil Ballett in der Regel an den großen Opernhäusern praktiziert wird, während freie Tanzproduktionen projektbezogen finanziert und erarbeitet werden. Als ich Jugendliche war, war der klassische Tanz so etwas wie der Einstieg in den Kosmos des Tanzes. Heute fühlen sich die meisten Jugendlichen eher vom Urban Dance angezogen. Das empfinde ich nicht als Manko, sondern denke, dass sich diese Stilvielfalt eher noch verbreitert. Und es gibt heute auch viele professionelle Tänzerinnen und Tänzer, die so begonnen haben und später im zeitgenössischen oder sogar klassischen Tanz gelandet sind.
Welche Tendenzen, Trends sehen Sie heute im Bühnentanz?
Es ist bemerkenswert, dass es wieder einen Hang zur Erfindung von Tanzsprachen gibt. Denn lange Zeit hat eher ein konzeptorientiertes Choreografieren dominiert, etwa im Sinn von Reflexionen über Körperlichkeit. Jetzt spielt das Schreiben von Bewegung im Raum wieder eine starke Rolle. Ebenso wichtig wird wieder die Auseinandersetzung mit Musik, und auch die bereits erwähnte Virtuosität, die lange im zeitgenössischen Tanz verpönt war. Vielleicht braucht man heute auch wieder solche "Larger than life"-Momente im Theater, um das Liveerlebnis auch noch anders zu spüren. Und schließlich kommt das Erzählen von Geschichten wieder. Narrationen sind ein Thema im Tanz, auch mit starkem Gesellschaftsbezug.
Wie programmieren Sie im Festspielhaus St. Pölten?
Mir ist besonders wichtig, bestimmte Werke der klassischen Avantgarde zu zeigen, die unsere Wahrnehmung von Tanz verändert haben. Die sollte man ab und zu im Spielplan haben, finde ich, denn manchen Stücken, die uns sehr modern vorkommen, sieht man ihr wahres Alter gar nicht an. Und natürlich lade ich regelmäßig neue, interessante Choreografinnen und Choreografen ein. Wir haben als Tanzhaus die besten Voraussetzungen dank einer großen Bühne und eines fixen Orchesters, des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Das ist im zeitgenössischen Tanz nicht oft der Fall.
Barbara Freitag