Als Literaturkritiker soll man ja stets die Contenance bewahren und Distanz halten. Doch bei Ali Smith, eine der aufregendsten Schriftstellerinnen unserer Zeit, brechen alle Dämme, denn Smith selbst bricht lustvoll alle Konventionen, ist keiner "Schule" zuzurechnen, außer jener der literarischen Meisterklasse. Mit den Bruchstücken unserer Existenz und den vielen Fragezeichen zeichnet die Schottin faszinierende Landkarten menschlichen Verhaltens. Und das ist schlicht schwindelerregend gut und klug.

Im Vorjahr wurde Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet. In der Jurybegründung hieß es: "Als Menschenkennerin weiß Smith, dass es, um Personen nahezukommen, nicht ausreicht, sie auf äußere Lebensstationen festzulegen. Sie stattet sie mit Träumen und Erinnerungen, Fantasien und Gedankenspielen aus."
Diese Methodik des allumfassenden Bewusstseinsstroms jenseits von Zeit und Raum wendet die Literatin auch in ihrem Roman "Gefährten" an. Der äußere Rahmen: Sandy, eine kunstsinnige, aber lebensträge Frau Mitte 50, hütet das Haus ihres Vaters, der während des Lockdowns im Krankenhaus landet. Unverhofft erhält sie eines Nachts einen Anruf von einer ehemaligen Studienkollegin, die ihr eine abenteuerliche Geschichte von einem eisernen Schloss erzählt, im Mittelalter geschmiedet von einer geheimnisvollen jungen Künstlerin.

Durch diesen Flashback in ihre Jugend öffnet sich die Tür in einen üppig wuchernde Sprach- und Gedankengarten, wo die Wortwundergewächse zu atemberaubender Schönheit und Komplexität erblühen. Smith leitet aus dem Nichts das Sein ab, aus der Leere das Licht, aus dem Gestern das Heute und daraus wiederum das Morgen. Sie weiß, dass alles mit allem verbunden ist und nur Narren glauben, dass ihr kleines Ich die großen Zusammenhänge versteht.

Diese Literatur hat viel Gewicht, ohne je zur Last zu werden. Nie wirkt das Verknüpfen von Kunst, Philosophie, Glauben, Politik mit den Lebensläufen ihrer Figuren akademisch bemüht. Leichte Kost ist das dennoch nicht. Die Bücher von Smith sind mitunter sperrig, störrisch, fordernd. Aber: "Durch den Schleier des Seltsamen trifft alles auf dein Auge und deinen Geist", heißt es an einer Stelle dieses Romans. Wenn sich dieser Schleier lüftet, gerät man durch die Wirkkraft dieser Literatur ins Taumeln und es ist endgültig vorbei mit der Contenance.
Ali Smith. Gefährten. Luchterhand, 251 Seiten, 24,70 Euro.