Haben Sie nachgerechnet? Stimmt das mit den 70 Jahren tatsächlich? Wie erwachsen fühlen Sie sich?
THOMAS SPITZER: Bei mir ist das so, dass ich noch nicht einmal das Licht der Welt betreten habe, was das Erwachsensein betrifft. Ich liebe es, Kind sein zu dürfen und es bis zur Urne zu bleiben. Biologisch gesehen ist die Sache natürlich klar, es gibt ja Spiegel. Man muss sich eingestehen, dass man vielfältig wird, im wahrsten Sinn des Wortes. Aber im Herzen bin ich ein ewig Pubertierender. Das ist auch der Grund, warum ich so gerne mit jungen Musikern zusammenarbeite. Die sagen dann oft: Du bist zwar ein Dinosaurier, schaust aus wie ein Wrack, bist aber trotzdem eine coole Sau. Das ist eine schöne Adelung. Ich glaube, es ist auch ganz gut, wenn man bis zum Schluss eine jugendhafte Lebensfreude in sich trägt. Das macht den Parcours des Lebens, vor allem im letzten Abschnitt, wesentlich leichter.

Man muss alt werden, um jung zu bleiben, hat Picasso einmal gesagt.
Ah, Picasso, für mich der Miles Davis der Malerei. Ein anderer Satz von ihm lautet: "Ich werde vermutlich sterben, ohne je geliebt zu haben." Ich kann das nachvollziehen. Er war jemand, der permanent in seiner Arbeitswut sich selbst gesucht hat und offenbar nicht fähig war, sich selbst zu lieben – und somit auch niemand anderen. Picasso hatte ja viele Frauen, aber die einzige, die ihn verlassen hat, war Françoise Gilot. Und ums Verlassenwerden geht es auch in dem Buch, das meine Frau Nora mir zum 70. Geburtstag geschenkt hat.

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Ein auf den ersten Blick sehr merkwürdiges Geschenk. Ihre jetzige Frau hat ein Buch mit dem Titel "Geht ein altes Herz auf Reisen" zusammengestellt mit Liebesbriefen und Zeichnungen, die Sie an andere Frauen geschickt haben.
Eifersucht ist Nora fremd. In der ersten Hälfte des Buches geht es um eine Frau, die mich verlassen hat. Und ich wurde vorher auch noch nie verlassen, siehe Picasso. Das war eine Niederlage für mich damals. Aber eine, aus der ich gelernt habe.

Sie kennen angeblich den Inhalt nicht, dürfen das Buch erst an Ihrem Geburtstag, also morgen, lesen. Stimmt das?
Ja, das stimmt. Ich selbst wäre zwar nie auf die Idee gekommen, mein Seelenleben und meine Verletzlichkeit nach außen zu tragen. Aber die Nora, mein preußischer Pitbull, gibt ja nie auf. Also habe ich gesagt: Warum eigentlich nicht? Ich war so lange auf die Rolle des kritisch-humoristischen Texters der EAV festgelegt, empfindsame Texte habe ich immer nur für andere geschrieben. Ich habe dann einige der Briefe, die Nora veröffentlichen wollte, durchgelesen und sofort damit aufgehört. Ich hätte nämlich sofort den Rotstift angesetzt und alles gestrichen, was zu persönlich, intim oder kitschig ist. Also habe ich Nora freie Hand gelassen, ihr vertraut, sonst wäre wohl nie etwas aus dem Buch geworden.

Ihre Frau hat also in Ihrem Papierarchiv gewühlt und eine Auswahl von Liebesbriefen veröffentlicht.
Sie hat unzählige Kisten voll Material gesichtet, das vor sich hin gemodert ist. Diese Briefe waren damals auch eine Art Trauerarbeit für mich. Ich musste nach dem Ende der Beziehung erst wieder lernen, alleine zu leben. Aber noch ein Wort zu Nora: Eine Frau, die Liebesbriefe an eine andere Frau zulässt, sie veröffentlicht und mir zum Geschenk macht, das ist ein Hauptgewinn. Ich freue mich jetzt auch schon auf das Buch. Es ist ja keine Schande, dass so Nach-außen-hin-Chauvis wie ich, die eh nicht mehr angesagt sind, auch verletzbar sind, dass sie zu Tränen fähig sind, dass sie schwach sind. Und, wie gesagt, in den 42 Jahren EAV wurde ich als Texter in Sachen Liebe je sehr kurz gehalten. Aber jetzt, das ist ein kleiner Vorteil des Alters, ist die Zeit gekommen, da ich alles machen kann, was ich will. Ich lass’ mich in kein verkaufsförderndes Korsett mehr zwängen, das ist eine neue, schöne Freiheit.

Diese Briefe zeigen einen sehr fragilen Mann, das widerspricht natürlich dem gängigen Spitzer-Bild des Rock-Berserkers.
Ja, ich lass dich in mich hineinschauen. Aber diese Seite ist eben auch Teil meines Lebens, meiner Persönlichkeit. Ich bin mehr als der ewige Schmähführer. Ich kann mir auch keinen wirklich interessanten Menschen vorstellen, den Humor allein glücklich macht.

Sind alle echten Rocker – zum Beispiel Lemmy Kilmister, Keith Richards, Iggy Pop – im tiefsten Herzen Romantiker?
Unbedingt! Ich bin überzeugt davon, dass ein guter Rockmusiker eine riesige Herzensbildung haben muss, sonst bringt er keinen einzigen guten Song zustande.

Zurück zu Ihrem Geburtstag. Zieht man da Bilanz, lässt Fehler Revue passieren? Und: Welchen Wunsch hätten Sie noch offen?
Mir wurde ja großer Erfolg geschenkt in meinem Leben. Aber das hatte auch seinen Preis. Meine Tochter, meine heiß geliebte Anna, die jetzt 44 Jahre alt ist, hätte einen Vater gebraucht; und zwar genau in der Zeit, in der ich nur auf Tournee war oder im Studio. Ich würde ihr liebend gerne mehr Zeit schenken, aber dieses Rad kann ich nicht mehr zurückdrehen. Was ich mir wünsche: Wenn auch ich trotz ewiger Jugend einmal abtreten muss, möchte ich sagen können: Ich habe nicht mehr geschadet als genützt.