Grinsekatze, Humpty Dumpty, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin, Tweedledee & Tweedledum. Ikonische Figuren der Populärkultur, die allesamt aus der fantastischen Wundertüte eines Buches entsprangen, das 1865 veröffentlich wurde und das bis heute in Film-, Theater- und Musicaladaptierungen lebendig geblieben ist.
Die Rede ist natürlich von „Alice im Wunderland“, verfasst von Charles Lutwidge Dodgson, einem Dozenten der Mathematik und Logik in Oxford. Der Nachwelt im Gedächtnis geblieben ist er freilich unter seinem (Künstler-)Namen Lewis Carroll. Nach dem wunderbar spleenigen, rätselhaften „Wunderland“-Buch, das sofort ein ungeheurer Erfolg wurde und von Königin Victoria ebenso gelesen wurde wie von Oscar Wilde, folgte 1872 der Band „Alice hinter den Spiegeln“.
Vorbild für die Alice-Figur, die durch einen Kaninchenbau in die von höchst sonderbaren Gestalten bevölkerte Wunderwelt fällt, war Alice Pleasance Liddell, die Tochter des Dekans am Christ Church College in Oxford und für den menschenscheuen, verschrobenen, aber gutmütigen Dodgson/Carroll sein „einziger Liebling“.
Als er mit dieser realen Alice Freundschaft schloss, war das Kind siebeneinhalb Jahre alt – und er 28. Diese „Beziehung“ und seine fotografische Vorliebe für nackte oder spärlich bekleidete Mädchen brachten dem Autor den Vorwurf pädophiler Neigungen ein. Es kam zum Zerwürfnis zwischen der Familie Liddell und Dodgson, die Mutter von Alice Liddell verbrannte all seine Briefe. Charles Lutwidge Dodgson starb am 14. Jänner 1898 an den Folgen einer Lungenentzündung im Alter von 65 Jahren.
Ob die „Alice“-Bücher überhaupt unter Kinder- und Jugendliteratur einzureihen sind, wird bis heute diskutiert. Tatsache ist, dass es bis ins 18. Jahrhundert überhaupt keine eigene Literatur für diese Altersgruppen gab. Kinder galten als kleine Erwachsene und die Kindheit als eine Art Übergangsphase, der nicht viel Beachtung geschenkt wurde. Die frühe Kinderliteratur war dann stark von Moral geprägt.
Im Zeitalter der Romantik wiederum wurde Kindheit verklärt, die Texte wurden sanft und lieblich. Der große, blutig-brutale Bruch kam dann 1845 mit einem Arzt namens Heinrich Hoffmann und seinen Struwwelpeter-Geschichten, die die schwarze Pädagogik feierten.
Dass Literatur auch Unterhaltung und nicht nur Unterweisung sein kann, hat erst 20 Jahre später, 1865, Wilhelm Busch mit seinen Lausbuben Max und Moritz bewiesen. In der „Neuen Welt“ schickte Mark Twain seinen Tom Sawyer auf unterhaltsame Abenteuer ohne Moralinsäure. Und bis heute eine unverwüstliche Heldin der Selbstermächtigung und des Widerstands gegen eine graue, verkopfte Erwachsenenwelt ist Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, die das erste Mal 1945 durch die Villa Kunterbunt tobte.
Zurück ins Wunderland. Die Frage, für welche Altersgruppe die Abenteuer von Alice geeignet sind, beantwortet Karin Haller, Geschäftsführerin des Instituts für Jugendliteratur in Wien, so: „Das ist eindeutig ein ,All Ager‘, genauso wie ,Gulliver’s Reisen’, ,Robinson Crusoe’ oder auch ,Harry Potter’“ – also für (fast) alle Altersgruppen. Generell ist Haller eine Gegnerin von Schubladisierungen und Einengungen. „Große Teile der Kinder- und Jugendliteratur sind schlicht und einfach Literatur, da sind keine Unterscheidungen notwendig.“
Auf der Homepage des Instituts ist zu lesen, dass man bemüht sei, „junge Menschen in ihrem Bedürfnis nach qualitätsvoller Lektüre zu unterstützen“. Die nächste Frage nimmt Haller gleich vorweg: „Und die Qualitätskriterien bei Jugendliteratur sind auch die gleichen wie bei jeder Art von Literatur. Es geht um Stilistik, sprachlichen Ausdruck, Ästhetik, glaubhafte Figuren und Dialoge.“
Auch in der Kinder- und Jugendliteratur spiegelt sich das wider, was die Gesellschaft beschäftigt. Derzeit sind das Themen wie Umweltschutz, Rassismus, die Genderdiskussion. Seit Jahrzehnten ungebrochen im Trend liegen die Genres Fantasy, Krimi, Thriller.
Und zum Leseverhalten: Im Alter zwischen 11 und 13 Jahren gibt es laut Haller einen „Leseknick“, danach kehren viel weniger männliche Jugendliche zum Buch zurück. Hinsichtlich der Ursachen dafür ist Haller vorsichtig. „Ein Grund ist vermutlich, dass Mädchen noch immer eher dazu erzogen sind, sich in andere Menschen und Lebenslagen hineinzuversetzen. Und das ist auch beim Lesen wesentlich.“