Der Autor schildert eine wilde Jugend, mit Sex und Drogen, ein Familienleben, in dem sein Naheverhältnis zu seiner Mutter eine bedeutsame Rolle spielt, und Ereignisse, die ihn zu radikaler Umkehr veranlassten. Klingt bekannt? Kein Wunder, es handelt sich bei Augustinus’ „Confessiones“ um einen nach heutigem Buchhandels-Jargon echten Longseller. 16 Jahrhunderte nach ihrer Entstehung zählt das Werk des Kirchenlehrers nicht nur zu den wichtigsten Werken christlicher Bekehrungsliteratur, sondern gilt als ein Ursprungstext abendländischer Autobiografie.
Der lateinische Titel gibt die Form vor: „Confessio“ ist als Beichte oder Bekenntnis übersetzbar, einschlägige Texte legen folgerichtig meist Persönlichstes offen: Autobiografien unterhalten, belehren und eröffnen gegebenenfalls Perspektiven auf das Individuum, sein Denken und die Welt, die es umgibt. Seit nicht nur die Gestalter der Geschichte, von Churchill bis Obama, sondern auch Angehörige marginalisierter Gruppen, von Malcolm X bis Christiane F., autobiografisch schreiben, postuliert das solcherart demokratisierte Genre Autorität über das eigene Leben. Für Prinz Harry, dessen Autobiografie „Spare“ (in der deutschen Übersetzung: „Reserve“) am Dienstag nach endloser Promo-Tour offiziell in 16 Sprachen erschien, ist das offenbar ein Zentralmotiv: seine „eigene Wahrheit“ verkünden zu dürfen.
Harry bedient den Sensationalismus unserer Tage
Keine Frage, dass der Prinz mit seinen Enthüllungen über den Tod seiner Mutter und dessen Folgen für sein Leben, über einen zu Handgreiflichkeiten neigenden Bruder und Thronfolger, eine hinterlistige Stiefmutter und einen Clan, der per palastinternem PR-Apparat den für höhere Weihen nicht in Frage kommenden Reservesohn nebst seiner Frau den Hyänen des britischen Boulevardjournalismus zum Fraß vorwarf, auch den Sensationalismus unserer Tage bedient. Letztlich aber scheint es dem Royal im Exil vor allem darum zu gehen, endlich gehört und verstanden zu werden. Zum Hinschauen zu zwingen heißt aber noch lange nicht, dass man auch wirklich gesehen wird. Gerade für Harry dürfte diese Erfahrung nicht neu sein; seit seinem Rückzug als „Working Royal“ versuchen er und seine Frau Meghan – ohne nennenswerten Erfolg – selbst zu bestimmen, was und wie viel sie über sich an die Öffentlichkeit preisgeben und sich ihr Narrativ „zurückzuholen“– in Zeitungsbeiträgen und TV-Interviews, in einer unter ihrer Kontrolle gedrehten Netflix-Serie; nun also auch in Buchform.
Bei dem Werk handelt es sich streng genommen zwar weniger um den sich selbst positionierenden, Lehren und Schlüsse erlaubenden Lebensbericht, den der klassische Autobiografiebegriff beschreibt, sondern eher um die persönlich gefärbten Erinnerungen, die üblicherweise dem Genre der Memoiren zugeordnet werden. Dennoch versucht sich der Prinz mit seinen gut 500 Seiten Bekenntnisliteratur wohl an einer „Technologie des Selbst“ nach dem Modell des Philosophen Michel Foucault. Demzufolge gäbe die persönliche Offenbarung – jenseits der stets Kirche bzw. Staat als Machtinstrument dienlichen Beichte – dem Individuum Gelegenheit, befreiende Wahrheit(en) über sich herzustellen.
Bei Königs geht es schäbig zu
Falls es Harry tatsächlich darum geht, tut er sich, auch wenn er für seine Verletzungen und Traumata jedes Verständnis verdient, möglicherweise keinen Gefallen, schließlich rückt übergroße Offenherzigkeit sein Buch eher in die Nähe jener Enthüllungsliteratur, die sich damit begnügt, möglichst deftige Privatissima auszustellen. Die in seinem Fall etwas nicht besonders Überraschendes verraten: nämlich, dass es bei Königs daheim auch recht schäbig zugehen kann.
Wenn nun die New York Times bereits darüber spekuliert, wie lange die Öffentlichkeit mit immer neuen Varianten der immer gleichen royalen Opfererzählung noch entertainbar ist, scheint die Frage nicht mehr weit, inwieweit das autobiografische Werk sowieso ganz anders einzuordnen wäre: nicht als wirkmächtiges Instrument der Selbstbehauptung, wie von Harry beschrieben. Sondern bloß als skandalträchtige Celebrity-Beichte und Instrument eines großräumigen Selbstvermarktungsunternehmens. Soll heißen: als Merchandise.
Auf jeden Fall verkauft sich das Buch wie verrückt – laut Verlag allein am Erscheinungstag 400.000 Mal. Soweit man wisse, „sind die einzigen Bücher, die sich am ersten Tag mehr verkauft haben, die mit dem anderen Harry (Potter)“, freute sich erwartungsgemäß ein Verlagssprecher. Der Vergleich ist man allerdings tapfer: mit sieben Bänden und 500 Millionen verkauften Büchern gibt der andere Harry einiges vor. Aber der Prinz ist erst 38. Da geht noch was, wenn er sich vornimmt, an seiner eigenen Wahrheit weiterzuschreiben. Andererseits „schafft der Verstand die Wahrheit nicht, sondern er findet sie vor.“ Zumindest Augustinus sah das so.
Ute Baumhackl