Mit Marina Davydova haben die Salzburger Festspiele eine herausragende Vertreterin der Moskauer Theaterszene zur Schauspielchefin berufen. Die studierte Theaterwissenschafterin, die mit Intendant Markus Hinterhäuser bereits 2016 bei den Wiener Festwochen arbeitete, ist mehr als eine Expertin für Theater in Russland: Ihr Festival "Neues Europäisches Theater" (NET) war für den russischen Theaterboom der vergangenen 15 Jahre mitverantwortlich, dem Putins Politik ein Ende setzte.
Davydovas Flucht aus Russland hatte im März auch für internationale Schlagzeilen gesorgt: Nachdem sie am 24. Februar eine Petition verfasst hatte, in der Russland zur Einstellung der Kampfhandlungen in der Ukraine aufgefordert worden war, war sie telefonisch zunächst bedroht worden. Schließlich malte eine unbekannte Person ein "Z", das Kampfzeichen der "militärischen Spezialoperation", auf ihre Wohnungstür. Die prominente Theaterkritikerin- und -kuratorin sah dies als Warnung vor drohendem Unheil und floh.
Chronistin des russischen Theaterbetriebs
Die 1966 im aserbaidschanischen Baku geborene Davydova hat mit diesen Ereignissen ein zweites Mal ihre Heimat zumindest temporär verloren. Während die Tochter eines Armeniers und einer Russin am renommierten GITIS für Theaterkunst in Moskau studierte, brachen Ende der Achtzigerjahre in Armenien und Aserbaidschan nationalistische Unruhen aus. Die elterliche Wohnung in Baku sei von Fremden besetzt worden, die Bibliothek und alle Andenken an die Familie wohl im Abfall gelandet, die Gräber der früh verstorbenen Eltern gemeinsam mit einem Friedhof auf barbarische Weise vernichtet worden, schrieb sie 2018 auf Facebook. Jahrzehntelang war sie zuvor nicht in ihrer Heimatstadt gewesen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion dissertierte Davydova 1992 in Moskau mit einer Arbeit über das englische Theater des 17. Jahrhunderts, als Theaterkritikerin unter anderem der Tageszeitungen "Wremja Nowostiej" und "Iswestija" avancierte sie seit den späten Neunzigerjahren zu einer maßgeblichen Chronistin des russischen Theaterbetriebs. Gemeinsam mit der nunmehrigen Intendantin des steirischen herbst, Ekaterina Degot, und der auch international erfolgreichen Autorin Marija Stepanowa gehörte sie zwischen 2008 und 2012 der Redaktion des Onlinemediums "OpenSpace.ru an". Parallel leitete Davydova seit 2010 die traditionsreiche Theaterzeitschrift "Teatr" – später "Teatr.", die zu einem Zentralorgan eines engagierten zeitgenössischen Theaters in Russland avancieren sollte. Die Printausgabe wurde im März 2022 aus politischen Gründen eingestellt.
Gemeinsam mit ihrem Kritikerkollegen Roman Dolschanski hatte Davydova bereits 1998 aber auch das NET-Festival gegründet, das bis 2021 das Moskauer Publikum mit neuem europäischen Theater vertraut machte. NET beeinflusste insbesondere jene Generation an russischen Theatermacherinnen und Theatermachern, die seit den späten Nullerjahren für Furore sorgten. Konstantin Bogomolow, Juri Kwjatkowski, Kirill Serebrennikow oder Dmitri Wolkostrelow inszenierten aber auch für das Festival selbst, das Russland konsequent als Teil Europas positionierte.
Ihre Aktivitäten für "Teatr." sowie NET sorgten gleichzeitig für ausgezeichnete internationale Kontakte, die Davydova auch 2016 als Programmkuratorin der damals von Markus Hinterhäuser geleiteten Wiener Festwochen produktiv einsetzen konnte. Zu sehen gab es damals neben Bogomolow aber auch die ukrainischen "Dakh Daughters", mit denen sich eine ukrainische Sonderausgabe von "Teatr." beschäftigt hatte, sowie eine Arbeit des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó, der zuvor auch bei NET inszeniert hatte.