"Ich denke, es ist hart, in dieser Zeit zu leben", sagte der 26-jährige Hollywoodstar Timothée Chalamet bei den Filmfestspielen von Venedig. Er wirkt im hochkarätig besetzten neuen Film von Luca Guadagnino mit und trumpfte am roten Teppich mit einem roten Einteiler auf - rückenfrei. Maren ist 18 Jahre alt und hungrig nach Menschenfleisch. In "Bones and All" wird ihre Coming-of-Age Geschichte als romantisches Road-Movie erzählt. Nach einem unangenehmen Vorfall, bei dem sie am Finger einer Mitschülerin knabbert, lässt sie ihr Vater auf sich allein gestellt zurück. Auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat, begegnen ihr verschiedene andere Kannibalen, die ihr zeigen, wie es sich mit damit leben lässt. Ein etwas seltsamer, aber netter älterer Mann (Mark Rylance) erklärt ihr seine Regeln. Doch dann trifft sie auf den jungen Lee - gespielt vom abgemagerten Teenie-Schwarm Timothée Chalamet - und die beiden reisen gemeinsam durch den Mittleren Westen der USA, irgendwo zwischen "Interview mit einem Vampir", "Bonnie & Clyde" und "Raw". Der Hunger nach menschlichem Fleisch ist, wie schon in der Buchvorlage, eine blutige Metapher. Wofür, bleibt den Zuschauenden überlassen: Drogen-Sucht und Abhängigkeit kommen ebenso infrage wie (un)ethischer Konsum, konkret von tierischem Fleisch, wie in einer Schlachthof-Szene recht deutlich nahegelegt wird.

Er weiß, wie man sich in Szene setzt: Timothée Chalamet
Er weiß, wie man sich in Szene setzt: Timothée Chalamet © Vianney Le Caer/Invision/AP

Das Horror-Element wird dabei nicht überstrapaziert oder für billige Schock-Effekte benutzt, bringt aber Irritation in das harmlose Reise-Romantik-Drama. Guadagnino, der zuletzt mit einem "Suspiria"-Remake von sich reden machte, erzählt manchmal allzu deutlich, fängt aber schöne Americana-Stimmungen in den 1980er Jahren ein. Die Darstellenden sind allesamt gut, allen voran Taylor Russel in der Hauptrolle. Ob das Kinopublikum mit dem eigenwilligen Genre-Mix etwas anfangen kann, wird sich beim österreichischen Kinostart Ende November zeigen. Favorit auf den Goldenen Löwen ist "Bones and All" trotz freundlichem Applaus in Venedig eher nicht.

Athena

Wer sich bei der Netflix-Produktion "Athena" an den 2019 erschienen "Les Misérables" von Ladj Ly erinnert, der liegt nicht ganz falsch. Der Auch hier geht es um den Konflikt zwischen den Bewohnern der Banlieues, französischen Vororten und intersektionaler Schmelztiegel von Immigranten, People of Colour oder Muslimen, sowie der französischen Polizei. Als der jüngste Bruder Idir nach einem Polizeiübergriff stirbt, gehen seine drei älteren Brüder sehr unterschiedlich mit der Situation um. Der älteste, Moktar, hat kein Interesse an dem Konflikt und ist besorgt, die überall aufpoppenden Barrikaden könnten seine illegalen Geschäfte bedrohen. Der zweitälteste, Abdel, der in Frankreich jahrelang als Soldat gedient hat, möchte den Vorfall über den formellen Weg klären und ist eher um die Bewohner seines titelgebenden Vororts, Athena, besorgt, da diese ins Kreuzfeuer geraten könnten. Der dritte im Bunde, Karim, will hingegen Rache und stürmt mit seinen Freunden erst die Polizeiwache, räumt diese leer, und baut sein Viertel gemeinsam mit anderen Wütenden zu einer Festung für den kommenden "Krieg" um.

Romain Gavras Film bietet inhaltlich die gewohnten dramatischen Eckpunkte, die man sich erwarten würde, doch es ist nicht das Drehbuch, das einen hier 90 Minuten lang in den Sitz fesselt. Gavras und sein Kameramann Matias Boucard gelingt ein atemberaubender Ritt durch knappe 24 Stunden in einer Konflikt- und Kriegszone, die sie mit langen Plansequenzen, Drohnen und weit ausladenden Winkeln inszenieren. Allein die Eröffnungssequenz, in der die Jugendlichen die Polizeistation stürmen, den Polizeibus stehlen, in ihr Viertel zurückkehren und dort Stellung beziehen, läuft ohne Schnitt und rund zehn Minuten durch. Selten wirkten zivile Konflikte, oder sogar Bürgerkrieg, so roh, knallhart und schmutzig. Es ist eine Schande, dass der Film nur auf Netflix laufen wird. Er hätte den größtmöglichen Kinosaal verdient.

Auftritt, Isabelle Huppert!
Auftritt, Isabelle Huppert! © APA/AFP/MARCO BERTORELLO

La Syndicaliste

Isabelle Huppert hat in ihrer illusteren Karriere schon viele schwierige Rollen übernommen. In "La Syndicaliste" in der Sektion Orizzonti von Jean-Paul Salomé spielt sie die kämpferische Gewerkschafterin eines großen französischen Atom-Konzerns. Der Film ist nicht nur die Verfilmung eines Romans, sondern basiert auf den realen Begebenheiten in Frankreich des Jahres 2012. Die Protagonistin Maureen Kearney, die sich mit ihrem Einsatz für die 50.000 Angestellten des Konzerns viele Feinde macht, wird eines Tages in ihrem Haus überfallen, an einen Stuhl gefesselt und misshandelt. Doch nach einem anfänglichen Aufschrei beginnt die Polizei plötzlich ihre Darstellung infrage zu stellen und sie als Lügnerin zu verfolgen. Der Film zeichnet diese Geschichte als Kriminal- und Justiz-Thriller nach. Wie schon im ganz anders inszenierten "Elle" brilliert Isabelle Huppert als starke Frau, der Schreckliches widerfährt. Doch auch hier wird sie der Klischee-Opferrolle nicht gerecht, die viele bei einem Missbrauchsfall im Kopf haben. Auch wenn die Erzählung den wahren Ereignissen konventionell und chronologisch gerecht werden will, steckt in ihrer Figur und ihrem Schauspiel eine enorme Spannung. Abseits der politischen Intrigen innerhalb des französischen Staatsapparats ist der Film im Kontext aktueller MeToo-Debatten interessant. Für Österreich gibt es noch keinen Starttermin.

Un Couple - Ein Paar

"Krieg und Frieden": Eins von Leo Tolstois berühmtesten Werken könnte man wohl auch auf seine Ehe umlegen. Zeugnis davon bergen die Tagebücher und Briefe seiner Frau Sofia Andrejewna Tolstaja. Dokumentarfilmer Frederick Wiseman hat sich im Lockdown die Zeit genommen. Statt einen seiner mehrstündigen, detailliert recherchierten Dokus über gesellschaftliche Institutionen, sei es eine Bibliothek oder das Rathaus, zu drehen, widmet er sich im Wettbewerbsbeitrag in rund 60 Minuten der Beziehung der Tolstois. Schauspielerin Nathalie Boutefeu wandert durch die Landschaft von Belle Île, einer Insel vor der Küste Britanniens, die ebenfalls üppig in Szene gesetzt wird, und rezitiert in einem dramatischen Monolog die Worte Tolstajas. Liebe, krankhafte Eifersucht, Stimmungswechsel, die Liebe zwischen dem Paar, dem "Couple", war von lebenslanger Verbundenheit und dennoch schrittweiser Entfremdung geprägt. Für Freunde des Literarischen ein interessanter, kurzzeitiger Zeitvertreib.