Das Filmjahr beginnt traditionell im Herbst – mit dem ältesten Filmfestival der Welt in Venedig. In den letzten Jahren hat sich die Filmschau in Italien zur wichtigen Startrampe für die amerikanische Filmindustrie gemausert. Die Gewinnerinnen und Gewinner des Goldenen Löwen spielen bei den Golden Globes und Oscars groß mit und die Premieren am Lido sind die perfekte Bühne für Marketing-Kampagnen. Heuer findet das Festival ohne Pandemie-Einschränkungen statt.
Hollywoodstar Julianne Moore hat den Jury-Vorsitz im Wettbewerb übernommen. Ihr stehen u. a. Regisseurin Audrey Diwan („Das Ereignis“) zur Seite, die im Vorjahr den Goldenen Löwen kassierte. Außerdem in der Jury vertreten: der argentinische Drehbuchautor Mariano Cohn, der italienische Filmemacher Leonardo Di Costanzo, die iranische Schauspielerin Leila Hatami, der spanische Regisseur Rodrigo Sorogoyen sowie der britische Autor Kazuo Ishiguro.
Sie entscheiden über 23 Filme im Wettbewerb, der von großen Namen gespickt ist. Lediglich fünf Regisseurinnen hat Festivalchef Alberto Barbera ausgewählt, darunter Favoritinnen wie Joanna Hogg und ihr im Lockdown gedrehtes Mystery-Drama "The Eternal Daughter" mit Tilda Swinton. Die Buchmacher sehen auch die Französin Alice Diop mit ihrem Spielfilmdebüt "Saint Omer", der von einer senegalesischen Autorin und einem Gerichtsprozess erzählt, weit oben. Ebenfalls im Wettbewerb findet sich Laura Poitras, die einst Edward Snowden in einem Hongkonger Hotelzimmer filmte ("Citizenfour"). In "All the Beauty and the Bloodshed" widmet sie sich der Fotografin Nan Goldin und ihrem Kampf gegen die US-Opioid-Epidemie.
Die Italienerin Susanna Nicchiarelli präsentiert den Spielfilm "Chiara" und Rebecca Zlotowski aus Frankreich bringt in der Tragikomödie "Les Enfants des Autres" Chiara Mastroianni auf die Leinwand. Deren Mutter, Catherine Deneuve, hat ihren Goldenen Löwen schon sicher. Sie bekommt bei der Eröffnung am Mittwoch den Ehrenpreis für das Lebenswerk verliehen, ebenso wie Regie-Veteran Paul Schrader.
International sorgen vor allem die englischsprachigen Beiträge für Furore, Star-Rummel und frühzeitige Oscar-Debatten. Darren Aronofsky adaptiert mit "The Whale" ein Theaterstück über einen übergewichtigen Mann, der seiner Tochter wieder näher kommen will.
Andrew Dominiks "Blonde" ist ein biografischer Film über keine Geringere als Marilyn Monroe, mit Ana de Armas in der Titelrolle – eine von insgesamt vier Netflix-Produktionen am Lido.
Der Streaming-Riese hat trotz jüngster Turbulenzen (siehe S. 2/3) wieder Preise im Auge. Nach dem Gewinner "Roma" 2018 eröffnet "White Noise" von Noah Baumbach ("Marriage Story") mit Adam Driver, Greta Gerwig und Lars Eidinger in einer Nebenrolle das Festival.
Zudem rittern Alejandro González Iñárritus "Bardo", Romain Gavras’ "Athena", Florian Zellers Theateradaption "The Son" mit Laura Dern und Hugh Jackman oder Todd Fields "Tár" mit Cate Blanchett und Nina Hoss im Wettbewerb um Trophäen.
Hochpolitisch und preisverdächtig ist wohl Jafar Panahis Film "No Bears", sitzt der Regisseur doch seit Kurzem mit anderen prominenten Filmemachenden in einem Gefängnis im Iran.
Solidarität steht in diesem Jahr in Bezug auf die Ukraine am Programm: Altmeister Sergei Loznitsa zeigt "The Kiev Trial" und die Doku "Freedom On Fire: Ukraine’s Fight For Freedom" von Evgeny Afineevsky dürfte für viele Kommentare sorgen. Bleibt zu hoffen, dass daneben Spielfilme wie "Ljuksemburg, Ljuksemburg" des jungen Ukrainers Antonio Lukich in der Reihe Orizzonti nicht untergehen.
Im Wettbewerb dieser Sektion wird "Vera" des Regie-Duos Tizza Covi und Rainer Frimmel gezeigt: eine semi-fiktionale Geschichte mit der Schauspielerin Vera Gemma, Tochter von Leinwandlegende Giuliano Gemma. David Wagners "Eismayer" als zweiter heimischer Beitrag erzählt die wahre Coming-out-Geschichte des Bundesheer-Ausbilders Charles Eismayer als queere Romanze mit tarngrün-zackiger Militär-Atmosphäre. In der Titelrolle: Gerhard Liebmann.
Star-Glamour ist angesagt. Ein Society-Höhepunkt wird Olivia Wildes Thriller "Don’t Worry Darling" werden – mit Harry Styles. Beide kamen sich beim Dreh näher. Der Streifen läuft wie Walter Mills Western "Dead for a Dollar" mit Christoph Waltz außer Konkurrenz.
Marian Wilhelm