"Die Erwartungen und Ansprüche der Leser sind dazu da, gezielt durcheinandergebracht und unterlaufen zu werden.“ Dieser Satz findet sich im neuen Roman „Treue“ des argentinischen Schriftstellers Hernan Diaz. Möglicherweise beeinflusst von seinem berühmten Landsmann Jorge Luis Borges, hält sich Diaz an dieses literarische Credo und entführt seine Leser in ein faszinierendes Spiegelkabinett, schlägt lust- und kunstvoll Volten, liefert unterschiedliche Versionen ein und derselben Geschichte, und am Ende ist nur eines gewiss: Die Realität steht auf unsicheren Beinen, weil es immer darauf ankommt, in welchen Händen die Erzählhoheit liegt.
Denn das ist der Kern dieses ebenso fulminanten wie rätselhaften Buches. Welches Leben wird erzählt, wer erzählt es aus welcher Perspektive, wer erhält eine Stimme, was wird ausgelassen? Die Geschichte(n): ein Börsenmagnat in New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach dem kollektiven Aufschwung der große Absturz, die große Depression, der Börsenkrach 1929.
Der Roman besteht aus vier Teilen: Im ersten Teil liest man den – vermeintlichen – Roman eines gewissen Harold Vanner über den Wall-Street-Millionär Benjamin Rusk und dessen Frau Helen, die nervenzerrüttet in einer Schweizer Anstalt stirbt. Im zweiten Teil korrigiert der „echte“ Börsenmagnat – Andrew Bevel – den angeblich verleumderischen Roman. Aber es wir noch verschachtelter, das Verwirrspiel noch virtuoser.
Im dritten Teil kommt die Autobiografin von Andrew Bevel zu Wort, ihre Vita steht im krassen Gegensatz zum „Evangelium des Geldes“, das an der Wall Street gepredigt wird. Der Vater Anarchist und Marxist, in Parallelerzählungen skizziert Diaz die Rückseite der Dollarnoten: unmenschliche Arbeitsbedingungen in den Fabriken, Streiks, Armut, die Justizmorde an Sacco und Vanzetti. Mythos Amerika – und der Morast.
Der Frau des Magnaten gehört die letzte Erzählung, sie übernimmt die Deutungshoheit. Aber stimmt ihre Version, oder befinden wir uns nur in einem weiterem Raum des Spiegelkabinetts? Dieser Roman ist eine grandiose Herausforderung, eine Absage an alle Gewissheiten, eine Hommage an die Macht des Wortes – und eine Warnung vor deren Gefährlichkeit. Warum der Originaltitel „Trust“ mit „Treue“ übersetzt wurde, ist schleierhaft, „Vertrauen“ wäre naheliegend. Dem ausgefuchsten Autor sollte man mit dem Gegenteil davon begegnen.
Buchtipp: Hernan Diaz. Treue. Hanser Berlin,
412 Seiten, 27,80 Euro.