Der verschlammte Mississippi, endlose Highways, ratternde Güterzüge, heimatlose Hobos. Das Unterwegssein und Suchen, Straßen und Gleise als Verbindungslinien zwischen Träumen, Hoffnungen, Siegen und Niederlagen, all das gehört zum amerikanischen Mythos; ewig in Bewegung bleiben, nie Stillstand.
On the Road. Unterwegs. Der Beatnik-Kultroman von Jack Kerouac erschien 1957. Drei Jahre früher, 1954, ist die Handlung von Amor Towles „Lincoln Highway“ angesiedelt. Dem vielfach ausgezeichneten (Bestseller-)Autor wird gerne „elegante Intelligenz“ attestiert. Dem ist wahrlich nicht zu widersprechen.
Denn Towles ist klug genug, nicht einen weiteren 08/15-Road-Roman auf die Landkarte zu setzen, und mit der Hipster-Reise von Kerouacs rauschhaften Helden Dean Moriarty und Sal Paradise hat dieses Buch schon gar nichts zu tun.
Towles erzählt die Geschichte der Brüder Emmett (18) und Bill (8) Watson. Emmett kehrt aus dem Erziehungsheim zurück, wo er einsaß, weil er im Streit einen Jugendlichen getötet hat. Der Vater ist inzwischen gestorben, die Farm bankrott, die Mutter hat schon vor Langem das Weite gesucht. Dann gesellen sich noch Duchess und Woolly zur Truppe, zwei ebenfalls 18-Jährige aus dem Heim. Die Reise könnte losgehen, das Problem: Jeder hat ein anderes Ziel.
Der historische Lincoln Highway, erbaut 1912, verbindet die Ost- und Westküste der USA. Amor Towles gelingt in diesem erzählerischen Kraftakt, der schwere- und mühelos Fahrt aufnimmt, das Kunststück, einen wunderbaren, handlungsprallen Roman über Mythen und Meilen zu schreiben, ohne leere Kilometer hinzulegen und das literaturhistorische Klischee zu bedienen. Seine Figuren sind sympathische Freaks, und die Menschen, die ihnen unterwegs begegnen, nehmen die Aufschrift auf der Dollar-Note noch für bare Münze: „In God we trust.“
„Meine Akademie war die Durchgangsstraße, mein Lesebuch die Erfahrung, und mein Lehrer das wankelmütige Schicksal“, ist an einer Stelle zu lesen. Am Ende erreichen alle ihr Ziel, wenn auch auf wankenden Umwegen. Aber das sind bekanntlich die schönsten Wegstrecken.
Buchtipp: Amor Towles. Lincoln Highway.
Hanser, 575 Seiten, 25,70 Euro.