Am Ende dieses Buches gibt es eine banale, aber erschütternde Alltagsszene, die die allumfassende Verheerung und Vereinsamung der Menschen widerspiegelt: Elisabeth und ihr Mann Walter sitzen in ihrem Häuschen im Ruhrgebiet. Jeder hat ein eigenes Zimmer und dort ein eigenes Fernsehgerät stehen. Und beide sehen, vom Flur getrennt, dasselbe Programm. Es war der Krieg, der sogennannte „Zweite“, der die irreparablen Flurschäden angerichtet hat. Denn: „Eine Zeit im Krieg, wie vergangen auch immer, ist wohl stets eine schwebende Gegenwart.“
Mit „Die Nacht unterm Schnee“ hat Ralf Rothmann seine bis ins Schmerzhafte intensive und zugleich immens feinfühlige Trilogie über die Langzeit-Traumata, die dieser Krieg angerichtet hat, beendet. Es ist, wie bereits die beiden Bände davor, die Geschichte seiner eigenen Familie; allerdings ist das offenkundig Autofiktionale nur der Rahmen, der von Rothmann vergoldet wird durch große, herausragende, dringliche Literatur, die ungeheure Kraft ausstrahlt, ohne sie demonstrativ zur Schau zu stellen.
Elisabeth wurde in den letzten Kriegstagen von russischen Soldaten missbraucht, „ihrem geheimen Schmerz macht sie zeitlebens krachend Luft.“ Sie ist das, was man damals ein „leichtes Mädchen“ nennt. Rothmann begleitet Elisabeth, also seine eigene Mutter, bis in die 1980er-Jahre. In die bittere Ehe mit dem melancholischen Melker Walter, mit dem sie später ins Ruhrgebiet zieht. In die torkelnden Tanzabende und muffigen Seitensprünge dieser Frau, deren Unglück die Unfähigkeit zum Glück ist.
In Deutschland nimmt der Wiederaufbau Fahrt auf, doch Beziehungsruinen säumen die Landschaft. „Altes Heu soll man nicht wenden“, heißt es an einer Stelle. Denn darunter liegt die Fäulnis. Haufenweise.
Mit diesem Buch setzt Ralf Rothmann einen ebenso wuchtigen wie fein ziselierten Schlussstein unter sein Panoptikum aus Versehrten und Verführten. Das Wort „Kriegsfolgenforschung“ ist nach dieser (Pflicht-)Lektüre, die lange nachhallt, neu zu definieren. Und Elisabeth? Trotz all dem, was ihr angetan wurde, wollte sie nicht als Verletzte und Erniedrigte betrachtet werden. Sondern? Rothmann weiß, dass auch er diese Antwort schuldig bleiben muss.
Buchtipp: Ralf Rothmann. Die Nacht unterm Schnee.
Suhrkamp, 304 Seiten, 24, 90 Euro.