Am 18. Juli starten die Salzburger Festspiele 2022. Zwei Wochen davor äußert sich Intendant Markus Hinterhäuser im APA-Interview über die Aufgabe der Kunst in Zeiten von Krise und Krieg, über den Umgang mit russischen Künstlern und Sponsoren, die Eck- und Höhepunkte seines Programms, die "schöne gemeinsame Sprache", die er mit seinen künstlerischen Mitstreitern gefunden hat, und über die nächste Schauspielleitung. In seiner Entscheidung sei er bereits "sehr sicher".
APA: Herr Hinterhäuser, Corona, Krieg und Klima – welches von diesen drei Dingen beschäftigt Sie am meisten?
Markus Hinterhäuser: Alle beschäftigen mich gleichermaßen. Wir haben in den vergangenen drei Jahren eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Pandemie gehabt. Auch wenn man mitunter einen anderen Eindruck gewinnen könnte: Die Pandemie ist nicht vorbei, und ihre Folgen sind nach wie vor unabsehbar. Die Klimakrise ist wohl DAS Thema für lange Zeit, und ein Krieg mitten in Europa war für niemanden vorstellbar. All dies hat Auswirkungen auf uns und auch darauf, wie wir mit den Festspielen umgehen. Ich gebe zu, dass ich schon leichtere, erfreulichere und unbeschwertere Zeiten bei den Festspielen erlebt habe als die vergangenen und wahrscheinlich auch die kommenden Jahre.
APA: Bedeutet das auch gelegentlich ein Ankämpfen gegen Frust, Depression und Verzweiflung?
Hinterhäuser: Nein. Die Festspiele haben in den letzten 100 Jahren immer wieder Auf- und Abwärtsbewegungen erlebt. Die Kultur muss sich in all diese Fragen einbringen. Aber ihre Möglichkeiten sind dann doch überschaubar, wir sollten sie nicht überschätzen. Wir können den Ukraine-Krieg nicht beenden, ich glaube nicht einmal, dass wir ihn beeinflussen können. Wir können die Klimakrise nicht beenden. Wir können die Flüchtlingskrise nicht beenden. Das heißt aber nicht, dass wir uns aus dem Spiel nehmen. Was wir allerdings können, ist, Bewusstsein schaffen, Fragen stellen durch das, was wir machen, uns auch selber befragen. Die großen Kunstwerke in der Musik, in der Literatur, in der Malerei geben uns die Möglichkeit, Zwischentöne des Nachdenkens hörbar und erlebbar und das eine oder andere vielleicht auch begreiflicher zu machen. Kunst ist alles, aber keine Therapie. Kunst ist alles, aber kein Eskapismus.
APA: Viele große Werke beschäftigen sich anhand von schrecklichen Begebenheiten mit den letzten Dingen – denken wir nur an die griechische Tragödie. Haben wir es uns zu bequem eingerichtet, und werden davon überrascht, dass unsere Gesellschaft nun selbst von echten Tragödien betroffen wird?
Hinterhäuser: Die Tragödien der Antike verhandeln auch die Bereitschaft zur Grausamkeit und das auf die schonungsloseste Weise – mit dem durchaus interessanten Resultat, dass genau diese Schonungslosigkeit eine Art von Katharsis hervorruft, die uns geradezu zwingt, unseren Kompass neu zu stellen. Die Themen der "Elektra" oder der "Salome" sind wirklich grausam, aber dennoch geben sie uns die Möglichkeit, unsere eigene Existenz vielleicht in ein anderes, in ein differenzierteres Ordnungssystem zu bringen. Die Festspiele sind in ihrer Genese ein durchaus politisches Projekt, von Künstlern in einem Weltkrieg ersonnen, in einer Zeit, in der politisch, sozial und kulturell alles aus den Fugen geraten war. Ich sehe diesen Gründungsmythos auch als Auftrag, sich der Welt mit den Mitteln der Kunst zu stellen.
APA: Als Intendant mussten Sie sich aufgrund des Überfalls auf die Ukraine plötzlich mit politischen Ereignissen und ihren Auswirkungen beschäftigen. Wird es aus diesem Grund in irgendeiner Position Veränderungen im Festspielprogramm geben?
Hinterhäuser: Alles, was in diesem entsetzlichen Krieg passiert, ist sehr schwer bis gar nicht vorhersehbar. Als Kulturinstitution sind wir einem zivilisatorischen Ton verpflichtet. Es gibt Künstler, deren Nähe zum System Putin auf unerträgliche Weise ganz offensichtlich ist. Aber es gibt viele andere, die im Moment in eine Art Kollektivschuld genommen werden. Da möchte ich nicht mitmachen. Ich glaube, dass man zu weit geht in der Verurteilung von Menschen, die sich nicht so äußern können, wie man es vielleicht hier von ihnen erwartet. Das geht einfach nicht. Ich habe lange mit der Theatermacherin Marina Davydova gesprochen, mit der ich 2016 bei den Wiener Festwochen sehr gut zusammengearbeitet habe. Sie musste aus Russland fliehen. Auf absehbare Zeit wird sie nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können. Angesprochen auf die Situation der Künstler in ihrem Land, ist ihre Analyse so schmerzhaft wie knapp: "Wir alle sind Geiseln Putins." Man sollte nicht nur vorsichtig, man sollte auch gerecht mit seinen Urteilen sein und wissen, wo die Grenzen sind.
APA: Sind bei Teodor Currentzis und MusicAeterna die Grenzen überschritten, die Sie setzen?
Hinterhäuser: Ich kenne Currentzis sehr lange und habe weder privat noch öffentlich je eine Bemerkung von ihm gehört, die irgendeine Art von Sympathie für das System Putin oder den Krieg zum Ausdruck gebracht hätte. Sein ganzes künstlerisches Wirken sehe ich als Gegenmodell. MusicAeterna setzt sich aus Musikern verschiedenster Herkunft zusammen, in der Hauptsache russische, aber auch ukrainische. Von ihnen ist bisher noch keiner aufgestanden und hat gesagt: Unter Teodor Currentzis spiele ich nicht. Wenn es von Currentzis noch kein Statement gibt, kann es ja auch mit seiner Verantwortlichkeit seinen Musikern gegenüber zu tun haben. Das Orchester wird in St. Petersburg von der VTB Bank strukturell unterstützt. Daraus eine unanständige Nähe oder gar Akzeptanz der Salzburger Festspiele zum System Putin abzuleiten, ist schon sehr konstruiert. Die VTB Bank ist kein Sponsor der Salzburger Festspiele. Ich bin sicher, dass Currentzis eine andere Struktur für sein Orchester finden wird, aber das kann man nicht in kurzer Zeit bewältigen – und schon gar nicht in Kriegszeiten.
APA: Waren wir im Umgang mit Russland alle viel zu naiv – etwa auch in Fragen des Sponsorings?
Hinterhäuser: Je enger die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen sind, desto leichter können sich weltanschauliche Differenzen neutralisieren lassen. Das war Konsens, und dieser Konsens folgte einer Entwicklung, die mit Glasnost und Perestroika schon vor 1989 begonnen hatte. Auf tragische Weise ist all das nun in sich zusammengebrochen. Aber was wäre denn die Alternative gewesen? Eine andauernde Konfrontation, eine Fortsetzung des Kalten Krieges? Was unser Sponsoring betrifft: Die Salzburger Festspiele wurden, entgegen manchen Behauptungen, niemals von russischen Großsponsoren unterstützt. Anlässlich des Sotschi-Dialogs 2019 hatten sich Gazprom und OMV bereit erklärt, sich an der Produktion "Boris Godunow" im Jahr 2020 mit jeweils 200.000 Euro finanziell zu beteiligen. Coronabedingt musste sie abgesagt werden, der Sponsoringvertrag mit den beiden Unternehmen wurde von den Festspielen aufgekündigt, und danach gab es nie wieder eine Annäherung.
APA: In Diskussion gerieten auch noch andere Geldgeber.
Hinterhäuser: Die V-A-C-Stiftung hat in den letzten Jahren Mozarts "La clemenza di Tito" in der Inszenierung von Peter Sellars sowie "Salome" und "Don Giovanni" in der Regie von Romeo Castellucci finanziell unterstützt. Sie steht nicht auf der EU-Sanktionsliste. In dem Augenblick, in dem sie auf die Sanktionsliste kommt, werden wir einen Umgang damit finden. Wir haben Solway, eine Firma, die seit Beginn des Krieges ganz klar gemacht hat, dass sie sich aus dem ohnedies sehr geringen Russlandgeschäft zurückzieht. Die haben ein ganz anderes Problem: Eine Plattform investigativer Journalisten in Guatemala hat Dinge aufgezeigt, die, würden sie stimmen, vollkommen inakzeptabel wären. (Es geht u. a. um Umweltschäden, Menschenrechtsverletzungen und Einschüchterungen beim Betrieb einer Nickelmine, Anm.) Es fand eine interne wie externe Untersuchung statt, deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Wir werden sehr zeitnah unsere Einschätzung und Bewertung bekannt geben. Und dann gibt es noch einen Verein russischer Freunde. Das sind rund 15 Personen, die überwiegend eine Silver-Club-Mitgliedschaft (ein Beitrag von 10.000 Euro) haben. Man sollte das schon in der richtigen Verhältnismäßigkeit sehen: Eine Plattform für russische Großsponsoren sind die Festspiele nicht und waren es auch niemals.
APA: Wie hat sich bisher die Zusammenarbeit mit der neuen Festspielpräsidentin Kristina Hammer gestaltet, gibt es neue Aufgabenverteilungen?
Hinterhäuser: Ich glaube, wir brauchen alle noch ein bisschen Zeit. 27 Jahre Präsidentschaft von Helga Rabl-Stadler, die wirklich großartig war, kann man nicht von einem Tag auf den anderen ganz leicht bewältigen. Niemand kann das. Das Neue braucht Zeit, sich einzuspielen, Zeit für ein gemeinsames Selbstverständnis.
APA: Kommen wir zum Programm: Wann wurde die "Göttliche Komödie" zum Referenzpunkt dieser Festspielsaison?
Hinterhäuser: Eigentlich mit der Entscheidung, "Il trittico" von Puccini zu machen. Puccini selbst beruft sich mit diesem Werk explizit auf Dantes "Göttliche Komödie". Die ist ja auch ein Triptychon aus Hölle, Fegefeuer und Paradies, eines der großen Menschheitswerke, ein Gedicht, das das ganze Universum mit einschließt. Puccini hat sein Werk im Ersten Weltkrieg komponiert. Als ich mich entschlossen habe, diese Oper zu programmieren – mit Asmik Grigorian in der Hauptrolle aller drei Akte –, war mir klar, dass die "Göttliche Komödie" ein wirklicher Referenzpunkt sein könnte. In einem weiteren Schritt habe ich Carl Orffs "De temporum fine comoedia" hinzugefügt. Auch dieses Oratorium, Musiktheater, Mysterienspiel, wie immer man es bezeichnen will, ist ein Triptychon, das sich nicht nur im Titel sehr an Dantes "Göttliche Komödie" anlehnt. Im gleichen Jahr, in dem"Il trittico" uraufgeführt wurde, nämlich 1918, unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs, wurde auch Béla Bartóks "Herzog Blaubarts Burg" uraufgeführt, nur drei Jahre später Janáceks "Káta Kabanová". Es sind alles Schritte in eine Modernität, die durch das Zerbrechen der alten Welt beschleunigt wurden. Die Koppelung von Bartók mit Orffs Spiel vom Ende der Zeiten habe ich Castellucci vorgeschlagen, und wir haben lange darüber geredet. Ich verrate jetzt nicht, wie er mit dieser Koppelung umgeht, aber es ist eine wirklich interessante Lösung, in der biblische und christliche Motive eine große Rolle spielen. Es geht um die Frage des Urteils und des Bösen. Und es geht um Luzifer als Träger des Lichts.
APA: Sie scheinen Ihre Truppe verschworener Mitstreiter gefunden zu haben. Fast alle Regieteams kommen wieder, und Sie geben auch zwei Produktionen eine neue Chance. Haben Sie das Gefühl, die Menschen gefunden zu haben, mit denen Sie Ihr Programm am besten umsetzen können?
Hinterhäuser: Ja, das ist so. Das sind Künstler, die mir nahe sind, und denen ich nahe bin, mit denen ich in eine sehr besondere Art des gemeinsamen Denkens treten kann. Da ist jetzt eine schöne gemeinsame Sprache gefunden worden. Für mich sind diese Handschriften im Moment die interessantesten. Aber ich habe ja noch ein paar Jahre, es wird also noch der eine oder die andere hinzukommen.
APA: Haben die beiden Werke, die als Neueinstudierungen wiederkommen, eine Gemeinsamkeit, warum Sie sie nochmals zur Diskussion stellen wollen?
Hinterhäuser: Ja, bei beiden – eine Premiere fand ja 2017 statt, die andere 2018 – gab es Gründe, warum diese Produktionen vielleicht nicht das einlösen konnten, was wir alle erwartet hatten. Von Shirin Neshat als Künstlerin und von dem, was sie mit ihrer "Aida" zu erzählen hat, bin ich allerdings vollkommen überzeugt. Ich habe sie angerufen und gefragt, ob sie Interesse hätte, sich noch einmal mit ihrer "Aida", diesmal in einer anderen, neuen Konstellation, auseinanderzusetzen. An der Grundkonzeption wird sich nichts Wesentliches ändern, aber die Handschrift von Shirin Neshat wird viel deutlicher erkennbar sein. Die "Zauberflöte" in der Inszenierung von Lydia Steier war ursprünglich im Haus für Mozart geplant. Wir haben sie aus vielen und auch profanen Gründen ins Große Festspielhaus verlegt. Das hat dieser Produktion nicht gut getan. Jetzt wird die Inszenierung dorthin zurückgeführt, wofür sie erdacht wurde - in einen deutlich intimeren Rahmen. Ich freue mich sehr auf diese beiden Produktionen.
APA: Parallel zu den künstlerischen Programmen planen die Festspiele ein riesiges Bauvorhaben. Baubeginn ist erst 2024. Fertig werden soll es 2030. Werden Sie überhaupt noch davon etwas haben, und was werden die Salzburger Festspiele davon haben?
Hinterhäuser: Die Festspiele werden sehr viel davon haben. Das Große Festspielhaus wurde 1960 eröffnet und bedarf dringend einer Sanierung. Es ist fantastisch gebaut, aber jetzt muss etwas geschehen, weil wir sonst Gefahr laufen, die Spielgenehmigung zu verlieren. Zusätzlich zur Generalsanierung war auch die Frage, wie wir die Arbeitsbereiche vergrößern können. Wir wollen ja die Werkstätten im Haus behalten. Das ist wichtig, es ist identitätsstiftend, und es ermöglicht eine andere Art der Gemeinschaft und der künstlerischen Qualität. Außerdem muss die Bühnentechnik dringend modernisiert werden, um dem Anspruch der Salzburger Festspiele auch perspektivisch weiter gerecht zu werden. Es ist eine absolut notwendige Investition in die Zukunft, nicht nur für die Festspiele, sondern für die gesamte Salzburger Kultur. Wir müssen es machen! Und ob ich selbst etwas davon habe? Selbstverständlich – und dazu eine gigantische Baustelle. (lacht)
APA: Im Moment läuft Ihr Vertrag bis 2026. Bis wann muss der Posten wieder ausgeschrieben werden?
Hinterhäuser: Ich denke 2024.
APA: Wann entscheiden Sie sich für die nächste Schauspielleitung?
Hinterhäuser: Die werde ich nach den Festspielen bekannt geben.
APA: Das klingt, als hätten Sie sich schon entschieden?
Hinterhäuser: (schmunzelt) Ich bin sehr sicher.
Wolfgang Huber-Lang/APA