Opernfreunde, die Aufführungen in Graz besuchen, kennen die Stimme vom Grazer Hauptplatz schon seit langem. Tetiana Miyus ist in den letzten Jahren zu den Stars des Grazer Opernensembles gereift, man hörte sie in „La Bohème“, „Perlenfischer“, „La Rondine“, „Carmen“ und vielen anderen Produktionen.
Für die ukrainische Sängerin ist vorige Woche ein Alptraum Wirklichkeit geworden. Leise, fast scheu artikuliert sie das Offensichtliche: „Russland hat die Ukraine angegriffen, niemand hat es gebeten, uns zu retten. Russland war immer ein Brudervolk, das uns nun in den Rücken fällt. Wir stehen alle unter Schock und können einfach nicht glauben, was da passiert.“
Miyus ist seit dem Angriff auf die Ukraine in größter Sorge, sie hat Verwandte und Freunde im ganzen Land zwischen Charkiw und Odessa. Die Schwester lebt als Lehrerin in Lwiw, die Mutter nördlich von Kiew, in Richtung belarussische Grenze. Kontakt hält sie übers Netz: „Wir haben ausgemacht, dass sie alle zwei Stunden schreiben, wie es ihnen geht.“ Das Haus der Mutter ist nur wenige Kilometer von den nach Kiew ziehenden feindlichen Truppen entfernt. Miyus berichtet: „Es ist ein Dorf mit 3000 Einwohnern, die Menschen dort haben keine Waffen, aber sie haben jetzt eine Brücke zerstört, um es den Russen möglichst schwer zu machen.“
Die Mutter sei immer fluchtbereit, habe Dokumente und Geld bei sich, falls sie ihr Heimatdorf sofort verlassen müsse. Miyus: „Es ist sehr gefährlich dort, die Russen haben wenig zu essen und keinen Treibstoff, die sind sehr schlecht gelaunt und dort überall unterwegs.“
Auch um Freunde und Verwandte in Kiew muss die sichtlich mit ihren Emotionen kämpfende Künstlerin bangen: „Sie haben Anweisungen bekommen, wo sie sich am besten in der Wohnung aufhalten sollen. Sie schlafen mit den kleinen Kindern in der Badewanne.“ Während des Gesprächs mit der Kleinen Zeitung haben Freunde von Miyus an der polnischen Grenze auf die Abfertigung gewartet, auf dem Weg nach Graz, wo sie bei der Sängerin eine Bleibe finden sollen.
Miyus: „Ich muss aufhören, immer zu weinen, diese Zeit ist vorbei. Jetzt ist die Zeit, zu helfen. Ich habe lange versucht, russische Freunde davon zu überzeugen, was in der Ukraine passiert. Das kostet Kraft.“ Tatsächlich dürfte das Nicht-Verstehen der russischen Freunde die Belastung noch erhöhen. Auch mit der besten Freundin, einer russischen Sängerin, die gerade in Deutschland ist, gebe es jetzt einen starken Dissens. Oft höre Miyus von den russischen Kollegen, dass diese gegen den Krieg seien, aber man „wisse nicht, wer recht hat und dass alles Politik ist“.
Das Schweigen sei schmerzhaft, aber Tetiana Miyus räumt ein: „Russen haben oft Angst, Kritik zu üben. Das ist der Unterschied zur Ukraine, da darf man seine Meinung sagen. Ich war fünf Mal in Russland. Abgesehen von Moskau, St. Petersburg und noch ein paar anderen Städten leben die Menschen dort in großer Armut und verlassen sich blind auf die Information der Staatsmedien.“
Wenn es um Klassik-Weltstars geht, die sich zurückhaltend und eher allgemein äußern, wird sie ärgerlich: „Wenn man die Biografie von manchen anschaut, merkt man, dass die überhaupt nicht neutral sind. Und andere Stars in Russland hatten sehr wohl den Mut, etwas gegen Putin zu sagen.“
Putin und sein Regime sieht sie als Gefahr für Europa: „Es ist ein einzelner Mensch, der die Regeln nicht respektiert. Es geht nicht nur um die Ukraine – was kommt danach? Polen? Allein, dass Putin mit Atombomben droht, ist schon so absurd. Aber wir kämpfen schon seit Jahren mit ihm, wir sind das gewohnt.“ Wenn Tetiana Miyus „uns“ sagt, meint sie die Ukraine, aber oft auch Österreich, das ihr eine zweite Heimat geworden ist.
Derzeit sei es für sie „lebensnotwendig“, ihren Protest zu artikulieren. „Ich habe keine Sekunde überlegt, ob ich am Hauptplatz singen soll. Meine Stimme, das ist meine Waffe, meine Wahrheit.“ Die Solidarität, die auch bei den Kundgebungen (die nächste am Samstag) spürbar sei, mache sie stolz. „Aber wir müssen mehr machen, weil der Krieg betrifft uns alle, wir sind in Österreich nicht weit entfernt. Wir dürfen als Österreicher nicht mehr neutral sein.“ Und die Ukraine sei stark: „Wir werden das Land wieder aufbauen.“
Für Miyus geht das Warten weiter, begleitet von der bedrückenden Vorstellung, keine Zeit zu haben: „Vielleicht ist es heute Abend zu spät, ich weiß nicht, ob ich morgen noch mit meiner Mama sprechen kann.“