"Wir geben den Menschen das Versprechen: Was ihr beim Duden nachschlagt, ist richtig.“ Was die Duden-Redaktion als Schlachtruf ausgibt, hört sich bei Wikipedia ganz anders an: „Wir geben kein Versprechen ab. Wir sagen, jede Quelle sollte mit gebührender Skepsis betrachtet werden.“
Die von dem US-Amerikaner Jimmy Wales und anderen am 15. Jänner 2001 gegründete Online-Enzyklopädie Wikipedia ist erst 21 Jahre jung, gilt aber mit 58 Millionen Artikeln längst als das Nachschlagewerk des digitalen Zeitalters. Als der Fischer Weltalmanach im Jahr 2018 mit dem 60. Band eingestellt wurde, überwog das Gefühl, dass hier eine Ära zu Ende ging: Dass sich ein Print-Produkt den Online-Nachschlagewerken geschlagen geben muss. Das Ende der Brockhaus-Enzyklopädie kündigte der gleichnamige Verlag schon 2013 an. 200 Jahre lang galt das von Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823) gegründete Verlagshaus als das Nachschlagewerk im gesamten deutschen Sprachraum.
Almanach, Wörterbuch, Lexikon oder Enzyklopädie sind im 21. Jahrhundert digital verfügbar. Verändert hat sich durch Nachschlagewerke wie Wikipedia aber auch der Prozess der Herstellung von Wissen: Knapp 600 ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zählt Wikimedia, die Gesellschaft im Hintergrund, allein in Österreich. Die englischsprachige Version wird täglich von fast 40.000 Menschen befüllt.
„Die Beiträge werden von ehrenamtlichen Menschen in ihrer Freizeit geschrieben“, erklärt Claudia Garád, Geschäftsführerin von Wikimedia Österreich. Keine Redaktion, Fachleute neben Laien also: Am Prozess der „Demokratisierung des Wissens“, wie es gerne genannt wird, darf sich jeder beteiligen. „Qualität und Verlässlichkeit sind gegeben“, sagt Garád.
Für Harald Jele, Bibliothekar an der Universität Klagenfurt, hat Wikipedia die Art, wie Wissen entsteht, völlig verändert: „Wenn Sie heute einen Umstand entdecken, der bei Wikipedia nicht vorhanden ist, können sie das recherchieren und die dazugehörigen Literaturquellen angeben. Dann allerdings fängt dieser demokratische Zugang zum Wissen zu rollen an. Es gibt Korrekturen und Ergänzungen von anderen, die ungefragt mitarbeiten und mitdenken.“
Zudem ist Wikipedia ein überaus praktikabler Wissensspeicher für alle. Die Frage, ob nur Fachleute daran arbeiten, erübrige sich: Es reiche, wenn jemand bestimmte Inhalte weiß und nachweisen kann, aus welchen verlässlichen Quellen er diese habe. Große Enzyklopädien wie der Brockhaus, die viele Bände umfassten und mehrere Tausend Euro kosten konnten, haben zur Zeit dagegen keine Chance. Dennoch ist das Lexikon in der Print-Ausgabe noch lange nicht tot.
Der Kosmos-Verlag zeigte mit dem vor zwei Jahren neu auf dem Markt eingeführten Weltalmanach, dass es geht: Die aktuell zweite Auflage des „Kosmos Weltalmanach 2022“ verkauft sich im guten fünfstelligen Bereich. „Wir konnten unsere Auflage von 2021 steigern“, sagt Brigitta Barlet, Verlagsleiterin Buch bei Kosmos. Aus Liebe zum Buch und weil man wusste, dass man das Know-how hat, füllte man die Lücke, die der Fischer-Weltalmanach aufgerissen hatte. Mehrbändigen Enzyklopädien gibt auch Barlet keine große Zukunftschance. „Doch ein einbändiger Weltalmanach, der hat Relevanz. Vor fünf Jahren hätte ich das noch pessimistischer betrachtet, aber wir erleben gerade eine Renaissance von Print.“ Für Barlet liegt die Antwort klar auf der Hand: Es handle sich bei einem Buch wie dem Weltalmanach um einen kuratierten Inhalt: „Da steht eine Redaktion dahinter. Wir Menschen sehnen uns nach Konzentration.“ Begrenzung und Orientierung sind zwei Versprechen, die Printprodukte wie der Weltalmanach abgeben.
Wikipedia im Gegensatz ist unbegrenzt erweiterbar und voller Querverweise: Eine Reise in ein digitales Universum des Wissens, das von Menschen aus dem „kompletten politischen Spektrum“ geschrieben wird. Die Identität jener, die die Beiträge erstellen, ist nicht bekannt: „Das ist gut und wichtig.“ Wissen sei eben auch politisch. Politiker und Politikerinnen stehen immer wieder im Wettstreit um ihre Wikipedia-Biografien: „Scheidung, Drogen oder laufende Verfahren“, sagt Garád, seien immer wieder Themen. Biografien können sich also ändern, bei Wikipedia könne man aber auch die Versionshistorie ansehen – von der ersten Version bis zur letzten. Dabei stellt sich die Frage: Was ist die Wahrheit? Wenn es um physikalische Grundbegriffe geht, ist auch bei Wikipedia kein Spielraum gegeben. Doch wenn es in den Bereich des Gesellschaftlich-Politischen geht, wird um die Fakten-Hoheit gerungen: Welche Details stehen in einer Biografie? Wie ordnet man die Corona-Pandemie ein? Fake News sind zwar nicht nur eine Sache des Digitalen, doch bemühen sich Verlage und Redaktionen um die Wahrheit. Die kroatische Wikipedia war zum Beispiel lange Zeit „rechtsnational unterwandert“. Bei Wikipedia stehe auch nicht der Perfektionismus im Vordergrund, für ein Wörterbuch wie den Duden geht es aber um genau diesen: „Man kann ein Wort vielleicht auf drei Arten schreiben. Wir sagen: bitte schreib es so“, sagt Nicole Weiffen von Duden. Der Verlag gibt auch „Das große Buch der Allgemeinbildung“ heraus: ein einbändiges Nachschlagewerk. Als die TV-Quizsendungen aufkamen, wollten die Menschen ein Kompendium haben, das Wissen praktisch und kompakt vereint.
„Die Funktion des Wissensspeichers ist auch das Wichtigste“, erklärt Harald Jele. Ein Printprodukt würde aber auch eine Epoche abbilden, weil es sich nicht sekündlich verändere. Ein Printprodukt sei damit auch zugleich konservierte Zeit, das unserem Gefühl entspricht, sich gerne an früher zu erinnern.