Eineinhalb Jahrzehnte nach Weltkrieg und Faschismus, während des Krieges in Algerien und während sich zwei Politsysteme unversöhnlich und bis zur Gefahr der gegenseitigen atomaren Auslöschung gegenüberstanden, schrieb Luigi Nono sein Musiktheater. Ein Kommunist und Genie der Neuen Musik, der Politik und Ästhetik zusammenführte und in seiner Oper eine Welt des staatlichen Terrors, der Verfolgung, der Erniedrigung und Folter auf die Bühne brachte, den Kampf des Proletariats gegen die Unterdrückung.
60 Jahre nach der Uraufführung in Venedig landet das extrem komplexe, nicht nur den Chor vor enorme Herausforderungen stellende Werk bei den Salzburger Festspielen, der marxistisch motivierte Kampf ist somit im Herz des liberalen Bürgertums angekommen, um dort bestaunt, bejubelt – und vermutlich auch zu Grabe getragen zu werden. Nonos nunmehr vollends ins Betriebssystem der Hochkultur eingebettete Kunst-Utopie stammt noch aus den Heldenjahren der Moderne, als man hoffte, mit ästhetischen Erzeugnissen die Verhältnisse ändern zu können. Der von Regisseur und Choreograf Jan Lauwers eingeführte „Blinde Poet“ erntet nur zynisches Gelächter von der Hundertschaft an Tänzerinnen, Sängern und Choristinnen auf der Bühne: Kein Wunder, 60 Jahre sind seit der Entstehung von „Intolleranza“ vergangen, die Welt ist, wagt man die eurozentristische Perspektive zu verlassen, keinen Schritt vorwärtsgekommen. Dass Flüchtlinge im Meer ertrinken und in Lagern vegetieren, religiöse SpinnerLänder unterwerfen und neue Autokratien die Menschenrechte beschneiden, passiert auch während der Salzburger Aufführung. Projektionen vor Vorstellungsbeginn erinnern daran.
Obwohl der Tod von George Floyd knapp zitiert wird, erspart sich Jan Lauwers allzu konkrete Anspielungen meist. Selbst der Einladung, die Naturkatastrophe am Ende mit dem Klimawandel in Zusammenhang zu bringen, schlägt er aus. Der Regisseur lässt die Folterszenen des Stücks zwar quälend genau aufführen, versucht aber hauptsächlich, der utopischen Kehrseite des Schreckens Gewicht zu geben: Momenten der Solidarität und Zärtlichkeit, der Zuneigung und der Poesie, die in all diesem Schrecken geboren werden, von Nonos glühenden Klängen evoziert.
Typisch für Lauwers ist das Moment der körperlichen Verausgabung. Nicht nur die Tänzerinnen und Tänzer sind fast permanent in Bewegung, im zweiten Teil zieht erst der Blinde Poet, dann das gesamte Ensemble Kreise rund um die Bühne. Wobei das Im-Kreis-Laufen wohl nicht als böse Metapher, sondern eher als Hingabe, als Opfer und als Willenskraft und Resilienz zu verstehen sind.
Bei Dirigent Ingo Metzmacher liegt der schwer zu hebende Schatz in den besten Händen. In der Weite der Felsenreitschule spannt sich Nonos zwischen höchster Fragilität und brutaler Attacke changierende Musik in nicht für möglich gehaltener Klangschönheit aus. Sensibel, kontrolliert, durchhörbar und doch intensiv wie vielleicht nie zuvor klingt „Intolleranza 1960“ Nono bei Metzmacher und den Wiener Philharmonikern. Die abenteuerlich schweren Chöre, die zum Teil über Lautsprecher eingespielt werden, bewältigt die Konzertvereinigung Staatsopernchor bravourös, die fünf Solisten sind sehr gut, allen voran Sean Panikkar als Emigrant, Sarah Maria Sun als Gefährtin sowie Anna Maria Chiuri als Frau. Die Tänzerinnen und Tänzer von Bodhi Project und SAED beherrschen die Szene neben der Chormasse, die Lauwers glänzend in Szene setzt. Ein Abend der Anklage und der Utopie, so notwendig wie vor 60 Jahren.