Intendant Markus Hinterhäuser hatte im Vorfeld einen „Don Giovanni“ avisiert, „wie man ihn noch nie zuvor gesehen hat“. Versprochen, gehalten! Seine Garanten für die Einlösung dieses Versprechens: Teodor Currentzis und Romeo Castellucci. Der eine ist als Dirigent ein Funkensprüher, der seine Mitmusiker wie das Publikum unvergleichlich zu elektrisieren versteht. Der andere ein Regisseur mit Bildmächtigkeit, dessen Werkdurchdringungen solitär sind.

Nach „La clemenza di Tito“ (2017) und „Idomeneo“ (2019), jeweils mit Peter Sellars als Regisseur, ist es für Currentzis nun also die dritte Mozart-Oper in Salzburg. Und die erste Kooperation überhaupt mit Castellucci, der an der Salzach zuletzt 2018 mit seiner Deutung der „Salome“ von Richard Strauss – mit Franz Welser-Möst am Pult und Asmik Grigorian in der Hauptrolle - den Festspielen einen Riesenerfolg bescherte.

Was beide schon vor der Premiere einte: Die Überzeugung, dass Don Giovanni das vollendete Bild der Einsamkeit abgibt. Und dass er sich nicht bloß mit seinen genialen Verführungskünsten, sondern auch durch seine selbstzerstörerischen Kräfte zum Mythos macht. Eros und Thanatos, Wahlverwandte.

Aus dem Schnürboden herabstürzend eine Limousine, ein Klavier, ein Rollstuhl. Dazu Basketbälle samt Korb, Krücken, Jongleure, Kletterer, ein Müllplatz, ein schwebender Kopierer, Obstberge, ein demontiertes Kreuz, ein alter Mann im Bikini, ein Haifischballon, Einhorn und Pfau, ein norwegischer Polarforscher mit Schiern und echtem Pudel mit Miami-Schur an der Leine, eine echte Ziege, eine echte Ratte… auf die surreal wirkenden Fotos, die von der Produktion schon vorab kursierten, konnte man sich keinen Reim machen. Nur die nackte Matratze spricht für sich – Abenteuerspielplatz für Don Giovanni. Aber live fügt sich fast alles auf wundersame Weise...

Ein Mord steht am Anfang von Mozarts wohl bedeutendster, in Sevilla spielender Oper aus 1787: Don Giovanni, der so selbstherrliche wie skrupellose Schürzenjäger, maskiert sich, um Donna Anna, die Verlobte Don Ottavios, zu verführen. Die aber weist ihn zurück. Ihr Vater, der Komtur, der sie gegen Don Giovanni verteidigt, wird von diesem im Duell tödlich verletzt.

Reuelos zieht der Beischlafwandler zu nächsten Liebesabenteuern weiter, mit seinem Diener Leporello, der letztlich die Wahrheit über den Frauenhelden verraten wird. Dazwischen wird aber noch Zerlina fast ein Opfer des Ausschweifenden, er wird von seiner verlassenen Geliebten Donna Elvira gestellt, entflieht ihr - und ein um das andere Mal auch seinen Häschern, bis er es letztlich zu bunt treibt: Er lädt die steinerne Statue des Komturs auf sein Schloss ein. Als dieser tatsächlich erscheint, ihn zur Reue auffordert und vom Wüstling verspottet wird, wird Don Giovanni von Geistern in die Unterwelt gezerrt, wo das Feuer den Missetäter richtet…

In Wahrheit ist Don Giovanni auch so etwas wie ein Jedermann. Nur auf seinen Vorteil bedacht, die Moral beiseiteschiebend, ein Schurke, Gotteslästerer, Weltauslacher und Grenzüberschreiter. Memento mori - an den Tod denken? Ja, schon, aber nur an den kleinen Tod! Der 60-jährige Castellucci zeigt ihn in der Salzburger Produktion im Großen Festspielhaus vor allem auch als Zerstörer. Auto, Klavier, Rollstuhl, Schaufensterpuppen, Frauen: Alles ist hin. Letztlich auch er selbst, wenn er sich nackt und zuckend in weißer Farbe suhlt und der Höllenfahrt entgegenrutscht.

In einer überbordenden, fast freudianischen, teils kryptischen Bilderflut inszeniert der italienische Regisseur das Spiel vom Leben und Sterben des geilen Mannes. Das hat nicht immer Sinn, ist aber von magischer Anziehungskraft, und bisweilen wirken die Szenerien mit vollem Einsatz von Schleiern, Vorhängen, Rauch und Licht wie bewegte milchige Gemälde von Gerhard Richter. Die Hauptprotagonisten führt Castellucci, auch für Bühne und Kostüme verantwortlich, geschickt in und mit der Musik. Cindy Van Acker hat für den stummen Frauenchor aus 150 Salzburger Statistinnen, die Don Giovannis endlose Reihe an Erorberungen verkörpern sollen, eine komplexe Choreografie geschaffen, daneben beeindrucken Tänzerinnen und Tänzer unter anderem mit einer grotesken Danse macabre.

Symbol für den Frauensammler Don Giovanni: 150 Salzburger Statistinnen bildeten einen stummen, komplex choreographierten Chor
Symbol für den Frauensammler Don Giovanni: 150 Salzburger Statistinnen bildeten einen stummen, komplex choreographierten Chor © APA/Gindl



Macht Peter Handke in seinem Buch „Don Juan (erzählt von ihm selbst)“ den dramenreichen Sexprotz zum undramatischen Melancholiker, so zeigt Castellucci Don Giovanni als einen, der seinen Weg – auch über Leichen - unbeirrt und bis zuletzt direttissima geht, bis hin zum Abgrund. Der italienische Bariton Davide Luciano singt und spielt in diesem kaleidoskopischen Bilderreigen den Erotomanen glänzend. Übertroffen wird er nur von der russischen Sopranistin Nadezhda Pavlova, die mit diamantener Stimme als Donna Anna brilliert und zurecht den größten Applaus des vierstündigen Premierenabends einheimst. Der amerikanische Tenor Michael Spyres als kerniger Don Ottavio, die Kölner Mezzosopranistin Anna Lucia Richter als zarte Zerlina, der aus Bayern stammende Bass David Steffens als (ver)zweifelnder Masetto, der finnische Bass Mika Kares als kräftiger Komtur und der neapolitanische Bariton Vito Priante, als Leporello fast ein siamesischer Zwilling von Don Giovanni und doch ganz anders, erreichen samt und sonders Festspielniveau; nur die italienische Sopranistin Federica Lombardi als Furie Donna Elvira, die Don Giovanni ständig dazwischenfunkt, fällt etwas ab.

Im Graben sorgt Teodor Currentzis für eine farbenreiche, dynamische Lesart von Mozarts Partitur. Das musicAeterna Orchestra weiß die Deutungen des 49-jährigen Griechen kantig bis klangschön umzusetzen, auch der von Vitaly Polonsky einstudierte musicAeterna Choir ist wie immer sehr präsent. Ob mozartferne Verfremdungen in Zwischenspielen und bei Rezitativen durch das Cembalo unbedingt notwendig sind, sei dahingestellt. Ein musikalisches Ereignis ist die nur noch fünf Mal gezeigte Produktion allemal, und die Inszenierung Romeo Castelluccis, die durchaus auch das Zeug zur Polarisierung hat, wurde (zumindest bei der Premiere) ebenso mit Standing Ovations und nur ganz vereinzelt mit Buhs bedacht.

Gespensterreigen um Don Giovanni (Davide Luciano)
Gespensterreigen um Don Giovanni (Davide Luciano) © APA/Gindl