Seltsamerweise fühlte sich fast alles an wie immer. Zum Start der 74. Filmfestspiele in Cannes mit dem exzentrischen Musical „Annette“ herrschte am Festivalpalais dichtes Gedränge.Marion Cotillard, die mit Adam Driver und Regisseur Leos Carax zur Premiere kam, steckte mit Fans furchtlos die Köpfe für Selfies zusammen. Und währenddessen strömte auf dem roten Teppich das aus aller Welt angereiste Premierenpublikum, wenn auch weitgehend maskiert, an einer Phalanx wild durcheinander rufender Fotografen in den Premierensaal Lumière – darunter zahlreiche Stars wie Helen Mirren und Pedro Almodóvar, die mit einer Ehrenpalme ausgezeichnete Jodie Foster und die Jury unter Vorsitz von Spike Lee, der im knallpinken Anzug aufkreuzte.
Vor anderthalb Jahren noch hätte man sich darüber kaum gewundert, wie sich die Filmbranche mit solch einem Glamourauftrieb in Südfrankreich feiert. Aber jetzt fragt man sich doch: Ist das eigentlich Wahnsinn mitten in einer Pandemie, die längst nicht ausgestanden ist? Oder Ausdruck einer unbändigen Sehnsucht, im gebeutelten Filmbetrieb mit strahlenden Bildern die alte Normalität zurückzuerobern? Gerade die Kinos haben schließlich vielerorts mit besonders strengen Hygieneauflagen zu kämpfen. Anders als im Festivalpalais in Cannes, wo alle Besucher geimpft, genesen oder getestet sein müssen, herrscht nebenan im großen Premierensaal Lumière aber lediglich Maskenpflicht. Prallvoll besetzt war das Auditorium trotzdem, als sich nach der Festival-Zwangspause im vergangenen Jahr der Vorhang am Dienstagabend hob und „Annette“ begann.
Zum pulsierenden Song „So May We Start“ laufen Driver und Cotillard anfangs singend an der Seite vieler anderer durchs Bild, die am Film beteiligt sind – darunter auch Carax selbst und Russell und Ron Mael, besser bekannt unter dem Bandnamen Sparks. Die beiden US-Amerikaner, die zu den einflussreichsten Bands der vergangenen Jahrzehnte gezählt werden dürften, haben die Grundidee und den Score zu dem Musical geliefert. Die Energie dieser ersten Minuten bleibt allerdings nicht ganz erhalten, und in den 140 Minuten gibt es auch keinen ähnlich eingängigen Song. Vielmehr lassen die Sparks die klassische Songform hinter sich und vertonen mit ihrer Musik die Dialoge einer Pop-Oper, die nicht nur von Drivers hingebungsvoller Performance, sondern auch von großen, dramatischen Themen gestützt wird: von der Liebe und wie sie an Abgründe gerät, vom Ruhm im Showbusiness und dessen Ende, von Leidenschaft und Mord – und dem Wunderbaby Annette dazwischen, eine lebendige Puppe, die singen kann und zur Berühmtheit gemacht wird.
„Der Wunsch, ein Musical zu machen, kommt von der Frustration, dass ich kein Musiker geworden bin“, sagte Carax, der zuletzt vor neun Jahren seine Tour de Force „Holy Motors“ vorstellte. „Die Musik hat mich abgelehnt, als ich noch Kind war, aber beim Kino habe ich auch das Gefühl, etwas komponieren zu können.“ In „Annette“ ringt der Ausnahmefilmemacher dem Musicalgenre einige herrliche Momente und aufregende Bilder ab. Ganz gleich, ob bei einer Geburt singend zum Pressen animiert wird oder Driver, das starke, schauspielerische Zentrum des Films, singt, während er mit Oralverkehr bei Cotillard beschäftigt ist.
Als die österreichische Regisseurin Jessica Hausner, die zuletzt mit „Little Joe“ im Wettbewerb konkurrierte und in diesem Jahr Mitglied der Jury ist, nach der Besonderheit des Festivals gefragt wurde, antwortete sie auf der Jury-Pressekonferenz: „In Cannes geht es nicht nur um Entertainment, sondern auch darum, neue Filmsprachen und neue Ideen zu entwickeln – manchmal ist es auch unterhaltsam.“ In mancherlei Hinsicht trifft das durchaus auf „Annette“ zu. Nur das ganz große, wilde Kinowunder ist Carax‘ eigenwillig träumerischer Film, dieser zerdehnte, artifizielle Musikbilderstrom, aber doch nicht geworden.
Sascha Rettig