Ihr hellsichtiger Roman „Der ehemalige Sohn“ erschien in Ihrer Heimat bereits 2014 und wurde erst jetzt übersetzt. An Aktualität aber hat das Werk eher dazugewonnen. Sie entwerfen darin das Bild Ihres Landes, das aus dem Tiefschlaf erwacht und sich gegen die Diktatur auflehnt. Haben sich diese Hoffnungen zumindest zum Teil erfüllt?
SASHA FILIPENKO: Ja, Belarus ist zweifellos aufgewacht. Wir beobachten eine unglaubliche Solidarität, in der ein ganzes Volk gegen den Machterhalt eines Diktators kämpft, dem leider Polizei und Armee einen Eid geschworen haben. Diesen Krieg wird er trotzdem verlieren, weil er nicht gegen die Belarussen kämpft, sondern gegen die Zeit. Man kann neun Millionen in Angst halten, aber man kann die Zeit nicht als Geisel nehmen. Lukaschenko hat verloren.
Aber es gab auch herbe Rückschläge. Sie selbst erhielten ja für Ihr Buch anfangs mehrere Auszeichnungen. Mittlerweile ist es in Belarus verboten, Sie selbst gelten als „Volksfeind“, der derzeit im Exil in der Schweiz lebt. Die Treibjagden auf Oppositionelle tragen beängstigende Züge. Bleiben Sie dennoch optimistisch?
FILIPENKO: Ja, und meine Zuversicht speist sich aus dem oben Beschriebenen. Dieses Regime entspricht nicht der heutigen Zeit. Es ist destruktiv. Das Land ist ruiniert, Studenten, Anwälte, Sportler wandern aus, wir werden Jahrzehnte brauchen, bis Belarus nach dieser humanitären Katastrophe wiederhergestellt ist. Hoffnung säen auch die Belarussen, die, obwohl sie gerade noch Fremde waren, angesichts des Drachens zu richtigen Kameraden wurden.
Mehr als 25 Jahre lang nahmen europäische Politiker die immer wieder auch sehr blutigen Ereignisse tatenlos zur Kenntnis. Die nun verhängten Sanktionen nach der erzwungen Landung eines Passagierflugzeuges wirken geradezu läppisch, oder?
FILIPENKO: Ja, das stimmt leider. Europa verschließt nach wie vor die Augen. Was die Ukraine betrifft, und erst recht, was uns betrifft. Europa will keinen Konflikt mit Russland, und jedes Mal, wenn es die Wahl hat zwischen wirtschaftlichen Gewinnen oder der Freiheit in Belarus, wählt es das Geld. Man sieht uns immer noch als Kolonie Russlands. Wenn Kurz und Macron den Konflikt in Belarus lösen wollen, rufen sie Putin an – warum ihn? Was hat er bei uns zu suchen? Das Erste, was Europa tun muss, ist, endlich eine starke Position einzunehmen und Putin zu erklären, dass Belarus ihn nichts angeht. Aber Europa ist hilflos. Europa kann Putin nichts entgegensetzen und wartet einfach, bis er stirbt. Aber er hat gute Ärzte.
Da spricht wieder der Zyniker. Wie müssten Europas Politiker tatsächlich reagieren?
FILIPENKO: Erstens – ein Signal an Russland. Zweitens – richtige Sanktionen, und nicht etwas, was getan wird, um die Europäer zu beruhigen. Wenn zum Beispiel Lukaschenko verboten wird, nach Paris zu fliegen, ist das lächerlich. Er würde da so oder so nicht hinfliegen, das ist, als würde man mir verbieten, auf den Mars zu fliegen. Keine Verträge und Abmachungen mit dem Regime. Jeder zweite Belarusse nutzt den österreichischen Mobilfunkanbieter A1. Während der Proteste hat die Firma A1 jedes Wochenende das Internet im Land abgeschaltet. Ich war am Tag der Wahl nicht in Belarus, A1 hat das Netz komplett ausgeschaltet, und meine Freunde haben mich in Russland angerufen, um das Wahlergebnis zu erfahren! A1 behauptet immer, das Internet abzuschalten, weil das das belarussische Innenministerium verlangt. Können Sie sich vorstellen, dass in Innsbruck, Wien oder Salzburg Demonstrationen stattfinden, und das österreichische Innenministerium befiehlt, im ganzen Land das Internet abzudrehen, und A1 befolgt diese Anweisung?! Da würden doch die Aktien am nächsten Tag auf null sinken. Das ist nur ein einfaches Beispiel. Das Unternehmen A1 hält Freiheit für ein Privileg der Österreicher und Belarus für ein Dritte-Welt-Land, und Millionen von Belarussen sind für sie nicht mehr als zahlende Kunden. Das ist eine Schande!
Sie setzen voll und ganz auf eine neue, junge Generation, die nicht mehr bereit ist, all die Unterdrückungen hinzunehmen. Die alte Diktatur komme mit dieser Generation nicht mehr zurecht, sagen Sie. Aber reicht das für den Weg in eine demokratische Zukunft, fernab von Verfolgung oder – wie in Ihrem Fall – von einer Art von Verbannung?
FILIPENKO: Schwierige Frage. Wenn ich jetzt daran denke, nach Hause zu fahren, dann weiß ich gar nicht, wohin. Nicht nur ich, sondern alle meine engsten Freunde – sieben Personen! – haben das Land verlassen. Die Jugend will vorwärts, aber Putin und Lukaschenko wollen zurück in die Vergangenheit.
Nun haben Diktatoren – schauderhafte Tatsache – durchaus auch Anhänger. Wie hoch schätzen Sie die Zahl der Lukaschenko-Befürworter ungefähr ein?
FILIPENKO: Auf Lukaschenkos Seite stehen die Armee und die Polizei. Wenn Russland ihm kein Geld geben würde, hätte er nicht einmal mehr die. Für Putin ist das Wichtigste, dass die Russen bloß nicht die Erfahrung machen, dass Proteste einen Diktator stürzen können – das ist Putins größte Angst. Lukaschenkos ganze Unterstützung sind Leute beim Militär und bei der Polizei und Propagandisten, die Putin kauft. Das ganze Land befindet sich in Geiselhaft einer Terrororganisation!
Wann waren Sie zuletzt in Ihrer Heimat? Glauben Sie an eine baldige Rückkehr, ohne im Gefängnis zu landen?
FILIPENKO: Zum letzten Mal war ich im September in Belarus. Nein, ich kann jetzt nicht zurück. Meinem Vater hat man direkt gesagt, dass auf mich das Gefängnis wartet, obwohl ich einfach nur Bücher und Artikel schreibe. In Minsk wurde mein Theaterstück zum Buch „Der ehemalige Sohn“ verboten. Nicht nur die Aufführung wurde untersagt, sondern sogar die Proben. Der Hauptdarsteller und der Regisseur haben das Land verlassen. Und trotzdem komme ich nach Hause, jeden Abend, wenn ich vor dem Einschlafen die Augen schließe.
„Schwer ist’s heute Fuß zu fassen, wenn du halbwegs leben willst“, heißt es ganz am Ende Ihres Romans. Ist es schwerer oder leichter geworden? Und wäre – natürlich metaphorisch – ein längst überfälliger Fußtritt die wichtigste Maßnahme?
FILIPENKO: So wie alle Belarussen fühle ich mich erschöpft und würde gern möglichst bald heimkommen, aber mir ist auch klar: Solange unsere Freunde in Haft sitzen, solange Lukaschenko Menschen foltert und tötet, haben wir kein Recht auf Niedergeschlagenheit und Erschöpfung. Auch weil wir schon sehr viel geschafft haben und sehen, dass wir allen egal sind und niemand außer uns selbst eine Veränderung der Situation herbeiführen kann. Wir müssen nicht nur gegen einen wahnsinnig gewordenen Diktator kämpfen, sondern auch noch gegen seinen Freund Putin. Das ist anstrengend.
Sasha Filipenkos Antworten übersetzte Ruth Altenhofer aus dem Russischen
Werner Krause