Ein besonders buntes, abwechslungsreiches, genreübergreifendes Bücherpaket haben wir diesmal für Sie geschnürt. Evie Wyld hat mit "Die Frauen" einen gespenstisch guten Generationenroman geschrieben, Maarten 't Hart zieht mit seiner wunderbar skurrilen  Geschichte über einen Orgelstimmer alle Register, und Bernhard Schlink betreibt mit "20. Juli" ein entlarvendes und lehrreiches Gedankenspiel. Und auch den Debütroman von Timon Karl Kaleyta, der beim diesjährigen Bachmannpreis teilgenommen hat, haben wir gelesen. Und jetzt dürfen sie das Packerl aufmachen, viel Vergnügen.

Ein altes Haus voll Menschen und Geschichten und Gerüchten und Gerüchen, gleich davor der dunkle "Bass Rock" (so auch der Originaltitel), eine unbewohnte Felseninsel. Das Bedrohliche an ihm spiegelt sich im Gemäuer wider. Ruth hat hier nach dem Zweiten Weltkrieg gewohnt, mit ihrem Mann und dessen beiden Söhnen. Dieses Glück, sofern es je eines war, bekommt schnell Risse. Jahrzehnte später soll Viv das Haus der Großmutter, das zum Verkauf steht, ausräumen. Dabei stößt sie auf Unrat der verschiedensten Art. Und Jahrhunderte vorher hat es hier noch Frauen gegeben, die als Hexen verfolgt wurden. Was für eine Geschichte!

Die britische Autorin Evie Wyld hat mit ihrem großartigen Roman "Die Frauen" nicht nur einen packenden, literarisch hochwertigen Generationenroman geschrieben, sie lässt auch eine doppelbödige Gothic Novel einfließen in das dunkle und beunruhigende Geschehen. Die Gespenster lauern hier aber nicht in finsteren Geheimgängen, sie tauchen auch im grellen Tageslicht auf und sind meist nicht als solche erkennbar.

"Die Frauen" ist ein scharfes Handlungs- und Stilgebräu; nicht sortenrein, aber dafür umso berauschender. Die Sprache von Wyld ist dem schottischen Wetter angepasst: stürmisch, regnerisch, nebelverhangen, abwechslungsreich. Und wenn einmal die Sonne durchkommt, fallen die Strahlen auf Dinge, Orte und Menschen, die man in dieser Klarheit gar nicht sehen möchte. Und wenn doch, muss man das auch aushalten. Ein höchst außergewöhliches Buch, im dem die Menschen oft schwer Schlaf finden. Der Leser nach der Lektüre ebenfalls.

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Evie Wyld. Die Frauen. Rowohlt. Hundert Augen,
507 Seiten, 22,70 Euro.

Bereits die Biografie des niederländischen Schriftstellers Maarten 't Hart - der spätestens mit "Das Wüten der ganzen Welt" (1997) auch bei uns auf den Bestseller-Listen steht - ist originell: Geboren 1944 als ältester Sohn eines Totengräbers, wuchs er in einer von strengem Calvinismus geprägten Umgebung auf. Später studierte er Biologie mit dem Schwerpunkt Verhaltensforschung. Seine Doktorarbeit schrieb er über das Verhalten von Ratten, 1971 schließlich das Debüt als Schriftsteller. Wiederkehrende Themen in seinen Büchern - die von einer oft satirisch anmutenden Skurrilität geprägt sind - sind Religion (obwohl er selbst überzeugter Atheist ist), die klassische Musik - und, gelinde ausgedrückt, komplizierte Liebesbeziehungen.

In seinem neuen Roman "Der Nachtstimmer" schickt dieser grandiose Schelm den Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd in ein südholländisches Hafenkaff und lässt ihn dort auf eine Schar von verhaltensoriginellen Menschen treffen. Beim Stimmen der Orgel ist dem Eigenbrötler ein sonderbares Mädchen namens Lanna behilflich, dessen Mutter Gracinha ist eine rabiat-resolute Herausforderung - und Schönheit. Um mit ihr besser kommunizieren zu können, beschafft sich Gabriel eine Bibel in portugiesischer Sprache.

Was für ein irrer Wahnwitz das folgende Geschehen, was für ein unbändiges Lesevergnügen. Man wähnt sich in einer nahezu kafkaesken Parallelwelt, wird von einer Absurdität in die Nächste getrieben, das Lachen und das Staunen halten einander die Waage, der Einfallsreichtum dieses Autors scheint nie zu versiegen. Komische Käuze und (Schein-)Heilige bevölkern die Stadt, im Seemannsheim werden Bibelrunden über sprechende Eselinnen abgehalten, Männer tragen Brillen ohne Gläser. Ein Buch, das sprachlos macht ob seiner Ideenflut. "Das Paradies liegt hinter mir" heißt ein (autobiografischer) Roman von Maarten 'T Hart. Mit seinem neuen Roman befindet man sich im Leseparadies.

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Maarten 't Hart. Der Nachtstimmer. Piper, 308 Seiten, 24,70  Euro.


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Mit den Graustufen im Umfeld des Dritten Reichs hat sich Berhard Schlink nicht nur in seinem (später mit Kate Winslet und Ralph Fiennes verfilmten) Erfolgsroman "Der Vorleser" beschäftigt. Sein neues Buch "20. Juli. Ein Zeitstück" nennt Schlink "ein Gedankenspiel", doch dieses Stück hat auf schmalen 91 Seiten mehr Gewicht und Substanz als so manches Geschichtswerk. Vor allem ist es lebensnäher.

Die Rahmenhandlung: Der letzte Schultag einer Abiturientenklasse fällt auf den 20. Juli. Plötzlich entbrennt unter den Schülern und ihrem charismatischen Lehrer eine hitzige Diskussion: Ist das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 nicht viel zu spät gekommen? Hätte es nicht am 20. Juli 1931 begangen werden müssen? Gleichsam als prophylaktischer Tyrannenmord. Im Rahmen einer Abschiedsfeier entsteht der Plan, es diesmal "richtig" zu machen und den Führer einer deutschen Rechtspartei rechtzeitig zu eliminieren - bevor er politisch noch Schlimmeres anrichten kann. Alles nur ein Gedankenspiel, oder meinen es die Schüler ernst?

Bernhard Schlink lässt seine Figuren in dieser Nacht im gewohnt ruhigen Ton eine Reifeprüfung der besonderen Art ablegen. Bald geht es nicht nur darum, was es einem wert ist, "das Richtige" zu tun. In einer Art Familienaufstellung erleben die Schülerinnen und Schüler schmerzhafte Demaskierungen, die ihr weiteres Leben prägen werden. Ein Zeitstück, ein Lehrstück - ohne Belehrung. Deshalb umso lehrreicher.

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Bernhard Schlink. 20. Juli. Ein Zeitstück, Diogenes,
91 Seiten, 16,90 Euro.

Der sogenannte Kritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki brüllte in seinem TV-Format „Das literarische Quartett“ gelegentlich auch darüber, dass er es hasse, wenn der Protagonist eines Romans ein Dummkopf sei. Was das 2013 verstorbene Rumpelstilzchen der Literaturkritik von dem Anti-Helden aus Timon Karl Kaleytas Debütroman „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ gehalten hätte, man kann es sich ausmalen. Der Ich-Erzähler ist ein auf den Vorteil bedachter junger Mann, ein von Gewissensbissen und sozialen Skrupeln befreiter Egozentriker, der niemals die Verantwortung für irgendetwas übernehmen möchte.

Kaleyta, der in den vergangenen Jahren als Kopf der Band „Susanne Blech“ aufgefallen ist, wo er mit Wortkaskaden angefüllten Intellektuellenpop fabrizierte, macht seinen Roman zu einer Aufsteigerparodie, die einen pathologischen Egoisten, der fast nur aus Überheblichkeit und Selbstmitleid zu bestehen scheint, ins Zentrum stellt. Weder durch Schaden noch durch Glück wird er ein Quäntchen klüger oder besser. Dieser Antibildungsroman könnte auch als Spottbild der in den 1980ern geborenen Generation lesbar sein, als bitterer Abgesang auf eine egozentrische, von Sozialstaat und Elternhaus behütete Schicht, wobei Kaleyta die Handlung offenbar sehr an seine eigene Biografie angelehnt hat.

Natürlich ist das ein Konzeptroman, dessen Prinzip man bald verstanden hat und der um gut 100 Seiten zu lang ausgefallen ist. Zu redundant sind die Reinfälle und Glücksfälle dieses Antihelden (Voltaires „Candide“ leuchet ein bisschen durch), wobei die Figur mit ihrer Widersprüchlichkeit aus Berechnung und Naivität nicht ganz gelungen ist. So wie Kaleyta den anderen – im Grunde unwichtigen Figuren – allesamt keinen eigenen Ton zugesteht. Vielleicht verbiegen sich deren Aussagen ja im Kopf des Protagonisten, der das von außen Kommende mit der eigenen Ignoranz in Deckung zu bringen versteht. Die literarischen Vorbilder sind klar, und werden auch explizit genannt. Julien Sorel, der letztlich tragisch scheiternde Opportunist aus Stendhals „Rot und Schwarz“ ist der Urahn unseres Unsympathen. Martin Gasser

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Timon Karl Kaleyta. Die Geschichte eines einfachen Mannes.
Piper, 316 Seiten, 20,90 Euro.


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