Statt Musik gab es eine geballte Ladung Psychoanalyse: "Pelléas und Mélisande" wurde am Samstagabend im Akademietheater nicht in der Opernfassung von Claude Debussy, sondern in Form des Originals aufgeführt. US-Regisseur Daniel Kramer hat Maurice Maeterlincks 1893 uraufgeführtes symbolistisches Schauspiel als mehrfache Missbrauchsgeschichte gedeutet, bei der Traum und Trauma ineinander übergehen. Im Zentrum steht Sophie von Kessel als zerbrechliche, zerbrochene Mélisande.
Zwischen düsterem Märchen und greller Fernsehshow siedelt Kramer seine zweistündige Inszenierung an, die bei der gestrigen Premiere mit viel Applaus bedacht wurde. Annette Murschetz hat eine zweigeteilte Bühne gebaut, auf der hinter einer Plexiglasscheibe immer wieder geschossen und vor ihr gelitten wird. Ein Wasserloch führt in die Tiefe, Wald, Schloss oder Krankenlager werden nur von wenigen Versatzstücken oder Projektionen definiert. Zwischendurch wird jedoch eine Show-Deko heruntergelassen. Im Glitzer-Ambiente einer Spiele-Show leuchten immer wieder Kapitel-Überschriften auf, darf Mélisande einen Siegerscheck über eine Million Euro in Empfang nehmen und das Lösungswort erraten. Es lautet: Suicide.
Die Inszenierung setzt auf starke, vieldeutige Bilder. Mélisande hat Unsagbares erlebt, ehe sie im Wald von Golaud aufgegriffen wird. Ein zitterndes, schreiendes, leicht bekleidetes Mädchen und ein riesenhafter Mann mit Pranken wie ein Bär und einer Stimme wie der sprichwörtliche böse Wolf, nachdem er Kreide gefressen hat. Der Haarfetischist steht aber mehr auf Rapunzel als auf Rotkäppchen. Sophie von Kessel und Rainer Galke sind ein eindrucksvolles Duo, bei dem die Kräfte höchst ungleich verteilt sind. Der Erwachsene ist nicht nur älter und stärker, er hat auch noch ein Gewehr. Und er hat einen großen, schweren Beutel vorne zwischen dem Schritt, mit dem er im Kinderzimmer an einer Puppe allerlei eindeutige Grauslichkeiten anstellt. Von diesem Beutel wird sich der von seinem Vater Golaud drangsalierte Sohn Yniold (Maresi Riegner darf sich wie in "Fräulein Julie" auf psychische Ausnahmezustände konzentrieren) mit einem scharfen Messer selbst befreien. "Yniold, ich erkenne dich. Du bist ein Mädchen. Ein schönes Mädchen", wird ihm Mélisande Mut zum Transgendern zusprechen.
Toxischer Alltag
Da gibt es aber - neben der hinzuerfundenen Figur der Vanna White (Leonie Berner) - noch die beiden Großeltern (Barbara Petritsch und Branko Samarovski), die dem deutlich spürbaren Trauma die Tiefenschärfe der Verletzungen der (und durch) die Vorgängergeneration verleihen. Und da ist noch Golauds Bruder Pelléas. Felix Rech bleibt, weil der Normalste, die mit Anstand blasseste Figur dieses familiären Missbrauchsdramas. Die Zuneigung, die Pelléas und Mélisande in diesem Hexenhaus zueinander entwickeln, ist nur allzu verständlich. Golaud verfolgt diese Zuneigung mit Argwohn und Hass. Die Tragödie, die sich hier anbahnt, ist kein antiker Stoff, sondern zeitgenössischer Alltag. Das toxische Milieu, das hier mit Mitteln der Überhöhung auf die Bühne gestellt wird, bedeutet nämlich für Polizisten und Psychiater dasselbe: Überstunden statt Kurzarbeit.