Wo lässt sich denn H. C. Artmann innerhalb der üppigen österreichischen Literaturszene einordnen – oder ist er buchstäblich unfassbar?
MICHAEL HOROWITZ: Ich denke nicht gerne in Kastln. Aber wenn, dann würde ich den H. C. in eine Reihe stellen mit der gerade verstorbenen Friederike Mayröcker und dem Ernst Jandl. Das ist ein in meinen Augen einzigartiges Dreigespann.
Aber Artmann war breiter „aufgestellt“ als Mayröcker und Jandl, nicht wahr? Sie schreiben an einer Stelle Ihres Buches, dass Artmann durch die Verbindung von Avantgarde und Volkstümlichkeit literarische Maßstäbe gesetzt hat.
Ja, es gibt kaum jemanden, der Wiener Typen so unvergleichlich charakterisiert hat. Ich liebe zum Beispiel sein Buch „Im Schatten der Burenwurst“. Allerdings fällt mir jetzt spontan jemand ein, der ähnliche wie Artmann Wiener Figuren ganz fein ziseliert beschrieben hat, nämlich der von mir ebenfalls hochgeschätzte Heimito von Doderer. Sowohl Artmann als auch Doderer beschreiben Menschen so, dass das für mich wie Kino im Kopf ist.
In diese Typenbeschreibungen fallen natürlich auch die Dialektgedichte „Med ana schwoazzn dintn“
Ja, die sind 1958 erschienen. Und über den Erfolg dieser Gedichte, also über den Dialekt, hat es Artmann geschafft, die Menschen zur Lyrik zu bringen. Diese Balladen aus der Vorstadt mit wunderbaren Sprachschöpfungen waren damals eine literarische Sensation, und Artmann wurde zum populären Volksdichter. Für mich war er auch immer ein begnadeter Sprachspieler, der seine Wortschöpfungen mit seiner grenzenlosen Fantasie kombiniert hat. Sprache war für Artmann auch ein Zufluchtsort in Zeiten, in denen es ihm schlecht ging.
Diese Gedichte waren aber Segen und Fluch zugleich.
Ja, es wurde ihm fast zu viel, wenn ihm die Leut' in der Tramway auf die Schulter geklopft haben. „Aha, der Dichter aus Breitensee, wann schreibst denn wieder ein Dialektgedichtl?“ Es ist ihm auch bald zu eng geworden in Wien, und Artmann ist dann mit einer sehr hübschen schwedischen Studentin nach Stockholm „geflüchtet“. Dann ging er nach Berlin, er wurde ruhe- und rastlos, was er eigentlich einen Großteil seines Lebens blieb. Artmann ist ja im 14. Hieb in einem Kabinettl mit Blick auf den Hinterhof aufgewachsen. Damals schon hat er sich selbst Sprachen angeeignet und gleichzeitig von der großen, weiten Welt geträumt. Er hat diese Vorstadtromantik schon auch gerne gehabt, aber im Prinzip war er immer ein Kosmopolit. Er hat einmal gesagt: „Mein Vater war Schuster, darauf bin ich stolz. Aber noch hätte ich ihn als Seemann gesehen, der um die Welt segelt.“ Und das hat er dann auf sich selbst projiziert.
Vor den Dialektgedichten gab es Mitte der 50er-Jahre natürlich die Wiener Gruppe, die ja laut Artmann nie eine solche war.
Auch der Gerhard Rühm sagte, dass es keine „Gruppe“ gegeben habe. Die Dorothea Zeemann – Schriftstellerin und Geliebte vom Doderer – hat damals in einer Zeitungskritik über eine Lesung geschrieben und die Teilnehmer als „Wiener Gruppe“ tituliert. Das ist hängen geblieben. Nach dem Krieg hat Artmann viele Jobs gehabt. Er war Dolmetscher, Statist am Burgtheater und hat sogar im Film „Der dritte Mann“ mitgespielt und einen Satz gehabt. Der lautete: „Was halten Sie von James Joyce?“ Die Szene wurde aber rausgeschnitten, weil der Dialekt von Artmann angeblich zu stark war. Zu Beginn der 50er-Jahre entstand dann der Art Club; eine lose, interdisziplinäre Künstlergruppe aus Schriftstellern, bildenden Künstlern, Architekten. 1953 dann hat Artmann die berühmte „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ verkündet. Damit wollten die Künstler in einer Zeit, die kulturpolitisch sehr rigide war, aufrütteln.
Und künstlerische Formen zertrümmern.
Natürlich – um dann Neues aus den Trümmern erschaffen zu können. Viele Künstler sind ja damals ins Ausland gegangen.
Sie haben H. C. Artmann ja gut gekannt. Was war er für ein Mensch?
Er war ein wahnsinnig sensibler, feiner, hochanständiger Mann. Als er Mitte der 90er-Jahre von Jörg Haider und seiner rechtsradikalen FPÖ als Sozialschmarotzer angegriffen wurde, hat ihn das sehr gekränkt; aber er war so nobel, nicht darauf zu reagieren. Für mich war H. C. Artmann ein Herr mit Grandezza. Wir waren ja keine intimen Freunde, das wäre übertrieben. Aber ich hab immer gespürt, dass mich Artmann irgendwie schätzt. Generell war es so bei ihm: Entweder er mochte dich – oder nicht. Ein Dazwischen gab es nicht.
Im Buch „Die Jagd nach Dr. U.“ lässt Artmann seine Figur J. A. Bancroft über sich sagen: „Ich bin ein Mann, der durch ein seltsames Schicksal in Ehrenhaftigkeit von Verwirrung zu Verwirrung taumelt; mein, sagen wir, naiver Mut, meine, wenn Sie gestatten, untadelige Haltung flößen mir größtes Vertrauen ein.“ Beschreibt Artmann da nicht sich selbst mit Augenzwinkern?
Absolut! Das hat er immer wieder gemacht. Das ist eine Liebeserklärung an das eigene Ich, aber ohne Narzissmus. Und er ist ja auch immer wieder in seine Figuren reingeschlüpft und hat mit ihnen und durch sie die seltsamsten Dinge erlebt. Artmann hat immer gesagt: „In meinem Pass dürfte nicht Schriftsteller stehen, sondern Abenteurer.“
Sie haben Artmann auch gegen sein Lebensende hin immer wieder getroffen. Wie ist denn jemand, der so leidenschaftlich und auch heftig gelebt hat, mit dem nahenden Tod umgegangen?
Er war knapp 80 und wusste, dass es dem Ende zugeht. Und er hat natürlich alles andere als vernünftig gelebt. Motto: pro Zeile eine Zigarette. H. C. Artmann hat generell mit dem Älterwerden und dem Schwächerwerden gehadert. Er wollte ein fescher, drahtiger, eleganter Weiberheld sein! Wenn er mir erzählt hat, wie er einmal bei einem Twist-Wettbewerb in Berlin den Günter Grass geschlagen und die Freundin ausgespannt hat, hatte er ein Leuchten in den Augen. Und er hatte ja auch recht. Das Älterwerden ist nicht lustig! Jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein Pharisäer oder ein Trottel.
Artmann wohnte ja in vielen Städten, auch in Graz. Das Verhältnis zur Stadt war aber ambivalent. Einerseits hat er hier, im Gasthaus Lückl, das erste Mal seine spätere Frau Rosa Pock gesehen, andererseits hat er sich mit der Grazer Autorenversammlung verkracht. Was ist da passiert?
Ja, das war eine schwierige, aber wunderbare Beziehung, denn der H. C. war ja keiner, der sein Leben einer einzigen Frau gewidmet hat. Und was den Krach mit der Grazer Autorenversammlung betrifft: Auch unter Literaten gibt es immer wieder Hahnenkämpfe. Die Grazer Autoren haben gewusst, dass sie der literarische Mittelpunkt Österreichs sind. Und dann kommt der Artmann daher, ein Wiener, und glaubt, er kann jetzt der Zampano sein. Ich interpretier das einmal so – ich war ja nicht dabei damals. Das war so ein Hin und Her damals. Nach dem Krach hat man sich ja wieder versöhnt.
Die erst unlängst verstorbene Friederike Mayröcker schreibt in Ihrem Buch über Artmann: „Ohne Ende seine stolze Feuerkunst möge verzaubern.“ Hat es die „Feuerkunst“ eines H. C. Artmann in unserer pragmatischen, reglementierten, fantasielosen Zeit nicht besonders schwer?
Ich glaube, dass gerade deshalb, weil unsere Zeit so pragmatisch und unpoetisch ist, Autoren wie Artmann wieder gesucht und gelesen werden. Es werden ja auch heute viele gute Bücher geschrieben. Aber oft fehlt mir die Fantasie, die Liebe am Fabulieren, die Feuerkunst eben!
Buchtipps:
Erweiterte Neufassung der (vergriffenen) Erstausgabe mit dem Titel „Annäherungen an den Schriftsteller und Sprachspieler“ inklusive aktuellem Interview mit Rosa Pock.
Michael Horowitz. H. C. Artmann. Bohemien und Bürgerschreck. Ueberreuter, 206 Seiten, 22 Euro.
Das umfangreiche, bunt schillernde Prosawerk Artmanns ist in diesen beiden Bänden gesammelt. Die ersten Texte stammen aus dem Jahr 1949, die letzten von 1996. Ein Schatz!
H. C. Artmann. Gesammelte Prosa in zwei Bänden.
Residenz-Verlag, 30,90 Euro.
Mit diesen Dialektgedichten wurde Artmann 1958 schlagartig berühmt, aber auch in eine Schublade gesteckt. Diese Edition beinhaltet eine CD, auf der Artmann selbst die Gedichte liest.
H. C. Artmann. med ana schwoazzn dintn.
Otto-Müller-Verlag, 96 Seiten, 22 Euro.