Es ist der Höhepunkt des Abends: Gesicht an Gesicht singen Nero und seine neue Frau Poppea ihre Liebe ins Publikum. Getragen und innig umschlingen sich die herrlichen Kantilenen der beiden Frauen. Sogar die rastlosen Tänzer der „Needcompany“, die Regisseur Jan Lauwers mitgebracht hat, halten im Hintergrund für diesen magischen Moment still. Kate Lindsey und Slávka Zámečníková, der perverse, gewalttätige Römerkaiser und seine skrupellose Braut, singen das Loblied auf die Liebe so doppeldeutig, als könnte die junge Liebe jeden Moment in Mord umschlagen. Im wirklichen Leben hat Nero die schwangere Poppea mit einem Tritt in den Unterleib getötet.
Gemordet wird viel an dem Abend. Jan Louwers lässt seine Tänzer fast drei Stunden lang das Gewaltrepertoire der Menschen durchexerzieren. Schon der Auftritt der Allegorien von Liebe, Glück und Weisheit verstört mit offener Gewalt. Jede der Damen prügelt einen Schwerversehrten vor sich her, ein etwas grobschlächtiges Bild. Im Lauf des Abends fließt Ketchup-Blut, schwere Stauchungen scheinen unvermeidlich. In der Mitte der blutgetränkten Bühne der Weltgeschichte dreht sich stets einer der Tänzer in Trance um die eigene Achse, ein Sinnbild der Ausweglosigkeit.
Im Gravitationszentrum des Abends aber steht Nero. Kate Lindsey, für die Olga Neuwirth ihre Oper „Orlando“ komponiert hatte, zeichnet mit furchterregender Intensität und verführerischer Stimmpracht einen psychotischen Gewalttäter mit Neigung zum Ausdruckstanz. Wenn sie sich unter die Needcompany mischt, ist sie von den Professionisten nicht mehr zu unterscheiden - eine umjubelte Glanzleistung.
Ihr zur Seite steht Slávka Zámečníková. Wie sie mit allen erotischen Finessen den kranken Potentaten umgarnt, ist auf einer Opernbühne sonst nicht zu sehen. Wunderbar mischt sich ihr Sopran mit dem Lindseys. Ein mörderisches Traumpaar.
Bewegend die resignierte Figur des Philosophen Seneca, gestaltet vom nach wie vor stimmgewaltigen Willard White. Er sieht ihn als illusionslosen Mann, der angesichts seiner gescheiterten Erziehung des jungen Nero gerne in den vom Kaiser verordneten Freitod zu gehen scheint. Auch die kleineren Rollen sind in einer Qualität besetzt, die keine Wünsche übrig lässt.
Im sehr hochgeschraubten Orchestergraben sitzt Nikolaus Harnoncourts Concentus Musicus. Zum ersten Mal dürfen die heimischen Pioniere des Originalklangs an der Stelle des Staatsopernorchesters Platz nehmen. Frühere Intendanten hatten stets ausländische Gäste für die Barockopern eingeladen. Das schändlich späte Debüt wurde zurecht mit Begeisterung aufgenommen. Pablo Heras-Casado kam am Pult zwar an das Feuer der Sängerriege nicht heran, lieferte aber mit fast fünfzig Musikerinnen und Musikern einen farbprächtigen Klangteppich.
Das begeisterte Publikum wollte die Truppe lange nicht zur Premierenfeier entlassen. Ein Triumph nach sieben Monaten des Lockdowns.
Thomas Götz