Mir ist heute zufällig ein Essayband von Ihnen in die Hand gefallen. „Reden und Aufsätze über das Erscheinungsbild des Orients“, erschienen 2009.
Barbara Frischmuth: Wirklich, das gibt es noch? Das Buch ist kaum wahrgenommen worden, was mich sehr geärgert hat. Auch Kollegen haben mich damals gefragt, ob ich verrückt sei, über Muslime und solche Themen zu schreiben. Nach dem Motto: Was hast du denn mit denen am Hut?
Von Ihrer Ausbildung her sehr viel: Sie haben Türkisch, Ungarisch und Orientalistik studiert in den 1960er-Jahren. Alle drei Länder bzw. Kulturkreise sind heute negativ behaftet.
Ja, und ich ärgere mich grenzenlos darüber.
Sie schreiben in diesem Band von Reibeflächen, an denen sich Orient und Okzident zunehmend aufschürfen. Schmerzen Sie diese Schürfwunden?
Sagen wir so: Ich bin unendlich enttäuscht über diese Entwicklung. Ich habe ja auch ein Buch über Ägypten geschrieben, das hieß „Vergiss Ägypten“. Das haben viele in die falsche Kehle bekommen und gefragt: Was hast du denn gegen Ägypten? Aber was ich wirklich damit meine, erschließt sich aus dem Buch. Eine meiner besten Freundinnen lebt in Kairo, eine sehr gescheite Germanistin, mit ihr habe ich nächtelang debattiert über die Lage in ihrem Land. Damals waren alle so von dem As-Sisi begeistert, der sich 2013 an die Macht geputscht hat. Aber mir war klar, dass das nicht gut gehen kann. Aber es ist sehr schwierig, weil alles so vernetzt und verknotet und verfilzt ist. Und der Erdoğan, auch so ein Liebling von mir, mischt da natürlich kräftig mit. Man darf aber nicht vergessen, dass sich Muslime auf furchtbare Weise auch gegenseitig umbringen. Natürlich trägt auch der Westen Mitschuld am Dilemma mit seinem reißbrettartigen Denken über Länder und Kulturen.
In diesem Buch geht es um das „Fremdeln“ und „Eigentümeln“. Warum wird das Fremde fast immer nur als Bedrohung gesehen?
Ich kann, auch als Gärtnerin, immer nur auf die Natur verweisen. Wenn es keine Symbiosen gibt, ist Krieg in Sicht. Wenn wir jetzt über die Zuwanderungen sprechen: Ansätze von Symbiosen gibt es ja immer wieder, aber das driftet dann wieder auseinander, wenn der Nationalismus, diese furchtbare Krankheit, ins Spiel kommt. Natürlich spielt der Islam eine Rolle, aber Religionen wurden immer schon politisch missbraucht. Ich bin ehrlich gesagt auch ratlos, was diese verfahrene Situation zwischen Orient und Okzident betrifft. Schauen Sie sich nur die Türkei an, dort war man schon viel weiter. Und jetzt?
Zurück nach Österreich. Was wäre der geeignete Weg, im Fremden – in der fremden Sprache, der fremden Kultur – einen Gewinn, eine Bereicherung zu sehen und nicht nur eine Gefahr?
Man müsste eigentlich schon im Kindergarten beginnen – spielerisch. Indem man den Fremden nicht nur unsere Kultur reinwürgt, sondern sie auch fragt: Was habt ihr denn für Lieder, welche Geschichten könnt ihr erzählen? Man muss diesen Menschen das Gefühl geben, dass sie auch etwas können, auch eine Geschichte und Kultur haben. Und wenn sie etwas zu sagen haben, etwas erzählen dürfen von sich, dann haben sie auch das Gefühl, wertgeschätzt zu werden. Es müsste mehr Austausch stattfinden. Integration muss immer von beiden Seiten gesehen und diskutiert werden. Ich habe ja an vielen Veranstaltungen und Diskussionen über das Thema Migration teilgenommen. Und da hab ich mir immer die Liste der Teilnehmer angeschaut und gefragt: Wer ist selbst Migrant? Und bei einer dieser Diskussionen hat es mir dann gereicht, und ich habe in die Expertenrunde gesagt: „Leute, wir können auf keinen grünen Zweig kommen, solange die Menschen, die es betrifft, nicht auch hier sind und mitreden dürfen.“
Das war der Orient-Komplex, jetzt zu Ihrem neuen Buch. Es trägt den Titel „Dein Schatten tanzt in der Küche“ und beinhaltet fünf Erzählungen über fünf gänzlich unterschiedliche Frauenleben, ein Mann kommt auch vor …
Es tauchen immer wieder Männer auf, aber eben nicht in den Hauptrollen.
Die Geschichten dieser Frauen enden oft tragisch, dennoch strahlen die Erzählungen eine tiefe Ruhe aus. Woher diese Gelassenheit inmitten von Lebenskatastrophen und -zäsuren?
Ich glaube, dieses Gefühl, das Sie beim Lesen hatten, entsteht auch durch die Verdichtung. Diese Lebensgeschichten, die eigentlich auch fünf Romane sein könnten, habe ich radikal zu komprimieren versucht. Das war diesmal mein sprachlicher Auftrag. Diese Erzählungen sind wie ein Suppenwürfel. Die eigene Fantasie kann man als Suppenwasser dazugießen. Für mich war der Punkt bei all diesen Geschichten: Was ist wirklich wichtig in diesen Leben, was bleibt übrig? Diese Komprimierung ist mir selbst erst nach einer gewissen Zeit beim Schreiben aufgefallen. Ich bin ja keine Theoretikerin, die einen festen Schreibplan hat.
Wie funktioniert denn Schreiben bei Ihnen, was passiert da?
Das sind Bewegungen, von denen ich gar nicht wissen will, welche genau es sind. Es ist ein Konglomerat aus Erinnerungen, Erfahrungen, Fantasien, auch aus realen Wahrnehmungen. All das wird zusammengekocht. Und ich bin alt genug, um gefüllte Speicher zu haben. Und aus diesem Speicher ziehe ich heraus, was ich gerade brauchen kann. Ich hab zwar eine Vorstellung von dem, was ich mache. Aber ich bin als Autorin nicht die alleinige Autorität. Nicht der Text muss mir bedingungslos gehorchen. Nein! Ich gehöre auch nicht zu jenen Autorinnen, die ganze Wände mit Personenkonstellationen pflastern. Für mich muss aus dem vorherigen Satz der nächste kommen. Ohne Storyboard.
Das heißt, dass Sie aus Ihrer eigenen Lebensessenz diese fünf Geschichten destilliert haben.
Ja. Aber ich kann mir nicht vornehmen, wie diese Geschichten dann verlaufen. Es spuken viele Sätze in meinem Hirn herum. Aber es gibt Sätze, die bleiben, die sekkieren dich Wochen und oft Monate. Und irgendwann macht der Satz auf und ich weiß, wie der nächste geht. Und der übernächste. Dann ist die Geschichte da. Aber die ersten Sätze bestimmen das ganze Geschehen.
Gibt es Gemeinsamkeiten in diesen fünf Frauenleben, einen roten Faden?
Ich weiß nicht nur aus der Biologie, sondern auch aus Erfahrung, dass es Kreisläufe gibt. Und wenn etwas aus- oder wegfällt, dann passiert etwas. Das ist auch bei diesen Frauenleben so. Diese Frauen sind sehr unterschiedlich. Diese menschliche Artenvielfalt interessiert mich. Und was auch immer entsteht, in der Natur oder in einem Menschenleben: Es dauert nicht lange und es kommen Varianten. Das ist das Grundprinzip des Lebens.
Und wenn ein Leben aus oft kleinem Anlass aus dem Lot gerät, dann wird es besonders interessant.
Genau! Was wir nicht im Griff haben, das ist besonders spannend. Das Unvorhersehbare, das nicht Berechenbare. Oft kommen Dinge, die alles zunichtemachen, ganz leise und unscheinbar des Weges. Dann würde man Hilfe brauchen, ist aber oft umgeben von Menschen, die in ihren eigenen Schmerzgruben sitzen. Aber all diese Tragödien, die in diesen Frauenleben passieren, werden von mir nie ganz aufgeschlüsselt – weil man sie gar nicht aufschlüsseln und exakt benennen kann.
Gibt es eine Lieblingsfigur in diesem Erzählband?
Die Paula mit ihren Ziegen und Katzen mag ich schon sehr. Diese Frau lebt in einer Ländlichkeit, die sehr brutale Züge haben kann.
Apropos brutal: Ich habe mitgezählt, in diesen fünf Erzählungen gibt es sieben Tote und eine Schwerkranke. Warum so viel Tod?
Weil das das Leben ist. Und fast alle diese Frauen sind in einem Alter, in dem der Tod normal ist. Es gibt nichts Sichereres als ihn. Irgendwann hört dieses Leben auf. Dann ist Schluss. Ab 70 wird ausgemistet. Das ist ein blödes Wort, aber es ist so. Wobei es meine Generation eh gut getroffen hat. Wenn ich daran denke, wie hoch bzw. niedrig früher die durchschnittliche Lebenserwartung war.
Sie feiern am 5. Juli ihren 80. Geburtstag. Wie ist es um Ihre eigene Altersgelassenheit bestellt?
Also, ich sterbe wahrscheinlich genauso ungern wie die meisten anderen Menschen. Aber es ist mir einfach klar, was jetzt kommen wird. Und jedes Jahr, das noch kommt, ist ein Geschenk, so banal das klingen mag. Es wäre auch gelogen, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich keine Angst habe vor dem Tod. Die große Frage ist, wie man stirbt. Und vor allem: wie lange?
Und nach dem Leben ist alles vorbei?
Für mich schon, ja. Natürlich spuken auch in meinem Kopf Danach-Programme herum. Aber die sind so viel heftiger und ausgedehnter als das, was die Religionen zu bieten haben. Das ist mir zu wenig und auch zu programmatisch. Oft dienen die diversen Jenseitsvorstellungen und -versprechen ja nur dem Zweck, die Menschen im Diesseits zu zähmen. Das halte ich für keine gute Idee.
„Natur und die Versuche, ihr mit Sprache beizukommen“ heißt ein weiteres aktuelles Buch von Ihnen, das in der Reihe „Unruhe bewahren“ im Residenz-Verlag erschienen ist. Ein Lebensmotto für Sie?
Die Unruhe? Wenn Sie als Gegensatz zur Bequemlichkeit verstanden wird, dann schon.
Die Rezension zum Buch
Da ist kein Wort zu viel, kein Satz zu überheblich, kein Gedanke flüchtig. Die fünf Erzählungen in diesem Buch sind aufs Wesentliche skelettiert. Das ist die Essenz des Daseins, der Rest ist wohlklingendes Schweigen. Mit großer Dringlichkeit, aber gleichzeitig tiefer Gelassenheit begleitet Barbara Frischmuth die fünf Frauen in diesem Erzählband – von der jungen Araberin, die nach Europa flüchtet, über die Ex-Prostituierte aus dem Osten bis zur alternden Schauspielerin – durch die Klimazonen des Lebens. Und Frischmuth verfügt über die Größe, sich als Autorin kleinzumachen. Dadurch verleiht sie ihren Figuren Grandezza – auch oder gerade im Scheitern. Ein altersloses Alterswerk, schonungslos berührend.
Barbara Frischmuth. Dein Schatten tanzt in der
Küche. Aufbau, 222 Seiten, 20,10 Euro.
Termin: Barbara Frischmuth liest am 20. Mai
(19 Uhr) im Literaturhaus Graz. Kartenreservierung
notwendig. Unter: www.literaturhaus-graz.at