Von Büchern über die Wertschätzung und die Kränkung zur Rache; einem Thema somit, das so weit weg und fast mystisch klingt. Warum denn das?
REINHARD HALLER: Weil ich auch über menschliche Gefühle schreiben möchte, die zu wenig beachtet werden – und da gehört Rache dazu. Man sollte meinen, das ist der Stoff, aus dem nur Opern, Kriminalromane oder Mafiafilme gemacht sind. Aber weit gefehlt. Rache spielt sich mitten im gesellschaftlichen und politischen Leben ab. Jeder von uns kämpft mit Rachegefühlen und -impulsen, und auch im sozialen Leben wird sehr viel Rache ausgeübt. Rache gehört zur Gefühlsausstattung der menschlichen Gefühlswelt, wird aber weitgehend verdrängt und tabuisiert.


Würden Sie die Nichterwähnung des Bundeskanzlers in der Abschiedsrede von Gesundheitsminister Rudolf Anschober schon unter Rache einreihen?
In der Tagespolitik ist Rache etwas Alltägliches. Und zu Anschober: Ich meine, dass er sich da auf sehr feine, elegante Weise für Verletzungen und Kränkungen gerächt hat. So müsste Rache sein! Dass man ein Zeichen setzt, dass man sich etwas nicht gefallen lässt, aber dass man den anderen trotzdem nicht allzu sehr zu Schaden kommen lässt. Insofern und auch sonst habe ich vor dem Rudolf Anschober allerhöchsten Respekt.


Sie schreiben über die verschiedensten Facetten der Rache: Als Fantasie sei sie tröstlich, in Beziehungen zerstörerisch, in Verbrechen mörderisch, im Kampf triumphal. Jenseits des Pathologischen: Gibt es auch so etwas wie den „gerechten Zorn“?
Rache ist ein sehr ambivalentes und schwer fassbares Gefühl. Man kann nicht klar sagen: Sie ist gut oder sie ist schlecht. Das spiegelt sich auch in der Sprache wider: Man spricht von süßer Rache, aber auch vom bitteren Geschmack der Rache. Auch der alttestamentarische Gott hat sich gerächt.


Was liegt der Rache zugrunde?
Bei Rache geht es immer um Gerechtigkeit. Das Hauptmotiv der Rache ist immer die Wiederherstellung der Gerechtigkeit; und Gerechtigkeit respektive das Bedürfnis danach ist eines der intensivsten menschlichen Gefühle. Das Wiedererlangen des Selbstwertes kommt als zweites Rachemotiv hinzu. Ich glaube also schon, dass es so etwas wie gerechte Rache gibt. In diese Richtung geht ja auch das Talionsprinzip: Auge um Auge. Heute sagen viele, wie primitiv und furchtbar das sei. Aber es gibt auch eine andere Seite, denn hinter diesem „Auge um Auge“ steckt nicht nur Vergeltung, sondern auch das Prinzip der Gerechtigkeit und vor allem der Verhältnismäßigkeit. Es heißt ja „Auge um Auge“ und nicht „Auge um drei Augen“. Aber noch einmal zurück auf Ihre Frage nach dem gerechten Zorn. Ich glaube, als Richtschnur sollte gelten, dass die Rache nicht stärker ausfallen darf als der ursprüngliche Schaden. Womit wir wieder bei Anschober wären, der aus psychologischer Sicht alles richtig gemacht hat. Denn die Bloßstellungen und Beschämungen, die er erlitten hat, waren sicher größer als seine Rache dafür – das Nichterwähnen einer Person.


Zu den pathologischen, negativen Seiten der Rache. Was sind dafür meist die Motive oder Grundlagen? Sind wir nicht wieder bei der Kränkung angelangt?
Ja, auf Umwegen. Ein klassisches Beispiel aus der Religionsgeschichte ist der Fall von Kain und Abel. Eine Kränkung, eine Zurückweisung, hat zu einer überdimensionalen Rache geführt – zum Brudermord. Aber die Kränkung ist natürlich mitten in unserem Alltag angesiedelt und deshalb auch die Reaktion darauf.


Sie schreiben, dass das Rachebedürfnis tief im Menschen verankert sei. Und Sie wollen dieses Bedürfnis weder verteufeln noch verherrlichen, sondern erklären. Wie erklärt man Rache? Und: Wie geht man mit dem Bedürfnis danach um?
Es ist der Versuch einer Erklärung, weil das Phänomen tatsächlich schwer fassbar ist. Und, selbstkritisch hinzugefügt, auch die Wissenschaft hat sich bislang um dieses Thema wenig gekümmert. In der Therapie – auch das selbstkritisch – ist ebenfalls wenig passiert. Auch wenn die Revanchegelüste unerträglich werden, sollte es, wie bereits festgestellt, immer eine Rache mit Augenmaß sein. Wichtig ist auch, dass einem bewusst wird, dass man sich jetzt rächt, denn dann kann man leichter mit diesem Gefühl umgehen. Das Gefühl selbst, das Bedürfnis nach Rache, kann man ja nicht wegzaubern. Ideal wäre natürlich, wenn man Rache in etwas Konstruktives umwandeln kann, sich also auf intelligente Weise rächt.


Wie geht denn das?
Ich habe im Buch das Beispiel von Lee Iacocca gebracht, des ehemaligen Ford-Managers, den man trotz seiner Erfolge abgesägt hat. Er hat als Reaktion darauf aber keinen langwierigen Rechtskrieg entfacht, sondern ist zu Chrysler gewechselt, hat die marode Marke saniert und damit eine Erfolgsgeschichte geschrieben.

Lee Iacocca: für Reinhard Haller ein Paradebeispiel des intelligenten, konstruktiven "Rächers"
Lee Iacocca: für Reinhard Haller ein Paradebeispiel des intelligenten, konstruktiven "Rächers" © (c) AP (Mario Cabrera)


Und die beste Lösung zur Eindämmung von Rachegelüsten?
Am schönsten wäre natürlich das Verzeihen, aber das übersteigt auch oft meine eigenen Grenzen. Was ich den Menschen gerne mitgeben möchte, ist das Selbstbild des Begnadigers. Damit erwische ich zwei Fliegen auf einen Streich. Auf der einen Seite kann man von dieser Haltung loslassen und den ganzen Rattenschwanz an Gefühlen – Angst, Zorn, schlechtes Gewissen – loswerden. Auf der anderen Seite erhöht man sich selbst, wertet sich auf, denn begnadigen kann ja nur eine hohe Instanz.


Ich verübe also dadurch, dass ich sie nicht ausübe, mit besonders feiner Klinge Rache!
Ich bin ja ein großer Bewunderer von Oscar Wilde. Und eines meiner Lieblingszitate von ihm lautet: „Vergib deinen Feinden, nichts verdrießt sie mehr.“

© KK

Buchtipp: Reinhard Haller. Rache. Gefangen zwischen Macht und Ohnmacht. Ecowin, 231 Seiten, 24 Euro.