Jagt er Gespenster oder jagen die Gespenster ihn? Wie vieles andere verschwimmen in diesem Buch auch die Grenzen zwischen Jäger und Gejagtem, zwischen Täter und Opfer, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Gut und Böse sowieso.
Roland Schimmelpfennig, einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands, hat mit „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ einen fiebrigen Großstadtroman geschrieben, dem zwar eine Krimihandlung zugrunde liegt, der aber viel tiefer gräbt und die urbanen Metamorphosen zum Sinnbild für menschlichen Um- und Zusammenbruch macht.
Ein Drogenermittler tötet bei einem Einsatz ein Kind, gerät danach völlig aus der Spur, wird suspendiert. Die kriminellen Clans, denen er schon früher zu nahe gekommen war, werden zu einer Ersatzheimat. Dann entdeckt er in einem Kanal die Leiche einer jungen Frau. Sie trägt ein Brautkleid, auf ihrem Rücken ein Tattoo-Gemälde.
Irrlichternde Odyssee
Der Ex-Polizist will der unbekannten Toten zumindest eines geben: einen Namen. Auf einer irrlichternden Odyssee durch Berlin, durch die brodelnden Technofavelas der Stadt und die überwucherten Ruinen der untergegangenen DDR findet er Antworten, die er eigentlich nicht hören möchte.
Die Sätze von Schimmelpfennig sind so gerade und giftig wie die Lines, die sich seine Figuren reinziehen. Die Hauptrolle spielt Berlin, die Spröde und Widersprüchliche an der Spree: überhitzt und unterkühlt, einnehmend und abweisend, vornehm und versifft. „Sind wir wach, oder glauben wir nur, wach zu sein?“, fragt einer. Die Antwort seines Gegenübers: „Wo ist der Unterschied?“
Doch es ist keine billige Freakshow, die Schimmelpfennig inszeniert. Zwischen all den Dealern, Junkies und anderen Gefallenen leuchtet die hochbegabte Tochter des vietnamesischen Gemüsehändlers, die in Harvard studiert, als Gegenentwurf heraus. Und der Ex-Polizist ist auf einem bösen Weg, aber im Blick hat er das Gute.
Ein dunkler Roman dennoch, aus dem viel Musik dringt. David Bowies zerrissen-schönes „Low“-Album etwa. Aber vor allem eine Songzeile aus einem Dylan-Song könnte dem Buch vorangestellt sein: „It’s not dark yet, but it’s getting there.“ Noch ist es nicht finster, aber es wird allmählich.
Buchtipp: Roland Schimmelpfennig. Die Linie zwischen Tag und Nacht.
S. Fischer, 206 Seiten, 22,95 Euro.