Amanda Gormans Gedicht hat am Tag der Inauguration von Joe Biden als US-Präsident ein Zeichen gesetzt: Gegen Rassismus und für eine diverse Gesellschaft. Sehen Sie Tendenzen, dass unsere Gesellschaft weniger rassistisch wird oder diverser, oder ist das nur ein publizistisches Ereignis?
PAUL KELLERMANN: Ein publizistisches Ereignis war es jedenfalls. Die Frage ist, ob das Gedicht etwas verändert. Ich möchte dreifach antworten: Es gibt diejenigen, die eh schon überzeugt waren, dass die Menschen alle gleiche Rechte haben und deswegen gegen Rassismus eingestellt sind. Die wird das Ereignis bestärken („Biden-Typ“). Die Gegenseite wird sich bestimmt nicht ändern („Trump-Typ“). In der Mitte stehen Leute, die noch nicht besonders über das Problem nachgedacht haben, aber dann nachzudenken begonnen haben. Wobei allerdings generell anzumerken ist, dass die Tabuierung des Begriffs „Rasse“ erst durch negativ diskriminierende Kennzeichnung bestimmter Menschengruppen entstanden ist. Viele andere Begriffe, auch der der Diskriminierung, haben erst später eine einseitige Bedeutung bekommen. „Diskriminieren“, aus dem Lateinischen, heißt ursprünglich „unterscheiden“. Jetzt aber hat der Begriff lediglich negative Bedeutung.
Gleichzeitig entbrannte ein Streit über die Übersetzungsfrage: Wer darf dieses Gedicht ins Deutsche übersetzen war plötzlich eine Frage. In anderen Ländern wurden Übersetzer, weil sie nicht divers genug waren, abgezogen. Läuft das nicht dem Grundgedanken des Gedichtes zuwider?
Also auch da sollte man differenzieren. Auf der einen Seite könnte man fragen: Wenn Amanda Gorman dagegen ist, dass ihr Gedicht von Weißen übersetzt wird, würden „Schwarze“ grundsätzlich anders übersetzen? Ich habe „Schwarze“ kennengelernt, die in Deutschland geboren sind und Frankfurter Dialekt sprechen. Nur, weil die „schwarz“ sind, können die nicht besser übersetzen. Da müsste man die kollektive und aktuelle Leidensgeschichte der „Schwarzen“ miterlebt haben. Die ist in den USA völlig anders als in Kanada oder anderen Ländern.
Was wäre der Schluss daraus?
Ich würde sagen, dass Weißhäutige, die eben kein Einfühlungsvermögen haben, das Gedicht nicht übersetzen sollten. Nehmen wir an, jemand ist in den USA als Übersetzerin oder Übersetzer geschult worden und wüsste, was den Afroamerikanern in ihrer Geschichte, die eine Sklavengeschichte ist, angetan wurde und wird. So jemand könnte in der Lage sein, eine einfühlsame Übersetzung zu machen, auch wenn sie nicht genau dem entsprechen würde, was Amanda Gorman empfunden hatte. Das gilt aber grundsätzlich für alle, die das Gedicht damals auf Englisch hörten oder heute lesen – alle haben ihr eigenes Verständnis aufgrund eigener Erfahrung. Vielleicht sollte Amanda Gorman ein offenes Seminar mit Übersetzerinnen machen, um gemeinsam zu erarbeiten, wie eine passende Übersetzung z. B. ins Deutsche, Französische oder Russische auszusehen hätte. Das wäre gesellschaftspolitisch interessant und könnte zu mehr Einfühlungsvermögen beitragen.
Political Correctness ist ein Begriff, der zuerst von Rechten und Konservativen in den USA benutzt wurde. Diese Gruppen sagten, dass „Political Correctness“ nichts anderes als ein Einschneiden ihrer Meinungsfreiheit sei. Ist es denn gut, wenn wir „Political Correctness“ zum Maßstab eines Diskurses machen?
Auch da kann man verschiedene Auffassungen vertreten; je nachdem, welche Absichten und Erfahrungen man hat. Man kann den Begriff als Instrument verstehen, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Aber wenn die Norm zum Nachdenken anregt, wäre sie zu begrüßen – nachdenken ist immer gut. Also, wenn sie dazu beitragen würde, sorgfältiger mit dem eigenen Reden umzugehen, wäre sie okay. Wenn sie verwendet wird, um abweichende Meinungsäußerungen zu unterdrücken, wäre das nicht okay.
Nach Jahrhunderten der Benachteiligung, Unterdrückung gibt es jetzt auch eine geforderte Über-Korrektheit, kann man das nicht auch verstehen. Und ist das nicht im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung auch verständlich?
Also ich glaube schon, dass das ein richtiger Gedanke ist. Mit dem Slogan „Black Lives Matter“ soll ausgedrückt werden, dass schwarze Leben „zählen“, also so berechtigt sind wie weißes Leben. An und für sich ist das selbstverständlich, wenn wir die Menschenrechte akzeptieren. Aber in vordemokratischen Gesellschaften, in denen von Geburt an feststeht und allgemein akzeptiert wird, du gehörst zum Adel und du zu den Sklaven, entstehen kaum Konflikte. Hingegen durch die allgemeinen Menschenrechten und in Gesellschaften mit demokratischem Anspruch fühlen und sehen sich “diskriminierte“ Menschen benachteiligt und erheben dann zurecht Forderungen nach Gleichberechtigung. Gesetze, die den gewohnten Status verändern, führen immer zu Konflikten.
Es stellt sich auch die Frage: Darf Satire, Kabarett oder ein Talkshow-Moderator jetzt nicht mehr übertreiben und politisch unkorrekt sein?
Die Wirkung wird sein, dass Leute sich verletzt fühlen. Im Prinzip gilt, die Würde der Menschen sollte gewahrt werden. Um dennoch Überzeichnungen zu ermöglichen, muss deutlich erkennbar sein, das ist jetzt Kabarett. Die Reaktion der Betroffenen kann sein, dass sie ausreichend selbstsicher sind und auf so etwas nicht mehr hören. Es kann aber auch bewirken, unwürdig und unmenschlich zu reagieren. Übersteigerungen, die längerfristige Verletzungen hervorrufen, sollten jedenfalls vermieden werden; soviel Empathie kann man auch von Kabarettisten erwarten.