"Noch 30 Minuten bis zur Aufführung", knarrt es auf Spanisch und Italienisch aus dem Lautsprecher in Marco Armiliatos Garderobe. "Diese Worte sind wie ein Geschenk. Wie lange habe ich mich danach gesehnt, wieder vor Publikum zu spielen", sagt der italienische Stardirigent, während er seinen Smoking zurechtlegt. Seit Anfang März führt der in Wien lebende Armiliato am Madrider Teatro Real, der Königlichen Oper, Vincenzo Bellinis "Norma" auf. Während in Österreich und fast allen europäischen Hauptstädten Theater, Opern, Konzerthallen und Kinos seit Monaten geschlossen bleiben, wird in Spanien wieder gespielt. Größere Konzerte sollen erst ab dem Frühsommer wieder stattfinden. Doch die Opernhäuser und Theater in Barcelona und Valencia sind schon wieder gut besucht. Aber vor allem in der spanischen Hauptstadt läuft der Kulturbetrieb seit vielen Monaten problemlos.
Als eines der ersten Häuser meldete sich vergangenen Juli das Teatro Real mit einer "Traviata" zurück und ist seitdem ohne Unterbrechung offen geblieben. Abend für Abend strömen derzeit rund 1.000 Zuschauer in die Königliche Oper, um Bellinis "Norma" zu genießen. "Diese Wärme und den Kontakt des Publikums hätte ich auch Plácido Domingo zu seinem 80. Geburtstag in der Wiener Staatsoper gewünscht", meint Marco Armiliato im Gespräch mit der Austria Presse Agentur. Im Jänner brachte er zusammen mit Direktor Bogdan Rošcic und dem spanischen Opernstar Verdis "Nabucco" in der leeren Staatsoper auf die Bühne. Die Konzertreihe wurde lediglich von TV-Kameras aufgezeichnet.
Er habe kein Verständnis dafür, dass man vielerorts die epidemiologischen Risikoszenarien in Opernhäusern mit denen in Bordellen und auf illegalen Partys vergleicht. "Gerade jetzt in Pandemiezeiten ist Kultur wichtig für die Menschen. Natürlich muss es auch sicher sein. Am einfachsten ist es, alles dichtzumachen. Aber Madrid zeigt, dass es auch anders geht", sagt Dirigent Armiliato, bevor er sich zum Orchestergraben aufmacht, in dem sein Podest von transparenten Plexiglasscheiben komplett umrahmt ist.
Langsam füllt sich die Oper. Obwohl man gesetzlich 75 Prozent der Plätze belegen dürfte, bietet das Teatro Real nur 65 Prozent an. Am Eingang wird das Publikum über desinfizierende Fußmatten geleitet. Von jedem Zuschauer wird die Körpertemperatur gemessen. Schlägt die Temperaturkontrolle an, steht eine eigene Krankenschwester bereit. Die Mundschutzmasken dürfen in keinem Moment abgesetzt werden. In jeder Ecke gibt es Desinfektionsgel. Zudem wird das Publikum selbst in den Pausen in verschiedene Sektoren aufgeteilt, damit einander maximal 30 Personen über den Weg laufen. Von jedem Besucher werden die Kontaktdaten verlangt, um bei Positivfällen schnell ein Contact Tracing durchführen zu können. Bisher gab es aber nur einen einzigen Fall. Im Jänner meldete sich eine Frau, die am Tag nach der Aufführung positiv getestet worden war. Sofort wurden die 25 nächsten Sitznachbarn aus ihrem Sektor verständigt und vom Teatro Real getestet. Das Ergebnis war negativ.
Seit April verfügt das Madrider Opernhaus über ein medizinisches Beratungskomitee, welches permanent die Hygiene- und Sicherheitskonzepte überarbeitet und kontrolliert. "Würde hier ein Infektionsherd bekannt, wäre der Imageschaden kaum wiedergutzumachen. Deshalb haben wir über eine Million Euro in Covidschutzmaßnahmen investiert. So konnten wir die Oper offen halten und brauchten trotz Coronapandemie niemanden entlassen oder in die Kurzarbeit schicken", sagt Ignacio García-Belenguer, Generaldirektor der Teatro Real, stolz.
UV-Lampen desinfizieren über Nacht den Saal und fast alle Räumlichkeiten. Sämtliche Wasserhähne wurden ausgewechselt, um sie kontaktlos zu machen. Sogar das Belüftungssystem wurde derart umgebaut, dass es 27 Mal in der Stunde komplett die Luft austauscht. Gesetzlich vorgeschrieben sind sieben Mal pro Stunde. "Dabei haben wir ein ähnliches Belüftungssystem wie in Flugzeugen installiert, bei dem die Belüftungsausgänge sich individuell unter jedem Sitzplatz befinden und die Luft von unten nach oben bewegen", versichert Operndirektor García-Belenguer.
Doch wie sieht es mit den Künstlern aus? "Ich für meinen Teil fühle mich absolut sicher. Alle halten sich hier respektvoll an die Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen. Wir sind sehr vorsichtig, denn wenn einer sich ansteckt, besteht für alle Gefahr. Zudem werden wir wöchentlich auf Covid-19 getestet", erklärt Opernsängerin Yolanda Auyanet, bevor sie in ihr Kostüm der "Norma" schlüpft. Während Auyanet und die anderen Protagonisten ohne Mundschutz singen, trägt der relativ große Chor aus der Bellini-Oper transparente, eigens vom Teatro Real angefertigte Masken auf der Bühne. Hinter der Bühne gibt es für alle einen eigenen Haken mit Namensschild. Jeder erhält einen Plastikbeutel für persönliche Utensilien. Bisher gab es im Teatro Real keinen einzigen Ansteckungsfall.
"Madrid und speziell das Teatro Real zeigen, dass auch in Pandemiezeiten Theater und Musikaufführungen möglich und sicher sind", meint der österreichische Startenor Andreas Schager. Für ihn war es nahezu ein Segen, nach monatelanger Covid-Zwangspause hier in Madrid wieder vor Publikum auf der Bühne stehen zu dürfen. Bis vergangene Woche trat Schager am Teatro Real unter Leitung von Pablo Heras-Casado in Richard Wagners "Siegfried" auf. Ein Publikumserfolg ohne gleichen. Jede Vorstellung war ausverkauft. "Dabei sind in den zwei Monaten, in denen ich in Madrid war, trotz geöffneter Theater, Kinos und Opern die Coronazahlen sogar zurückgegangen", so Schager. Die offiziellen Inzidenzzahlen geben ihm recht. In den vergangenen Monaten ist der 7-Tage-Wert von über 300 auf 108 Neuinfektionen gesunken. "Das stellt natürlich die Verhältnismäßigkeit unseres Kultur-Lockdowns in Österreich infrage", gibt Schager zu bedenken. Für ihn ist Madrid derzeit zweifellos Europas Kulturhauptstadt.
Auch die "Florestan-Initiative" nimmt das Teatro Real als Beispiel dafür, "dass ein ernstzunehmender gesundheitspolitischer Umgang sich mit Öffnungsszenarien für die Kultur durchaus vereinbaren lässt". Die vom Pianisten Florian Krumpöck angestoßene Initiative, die unter anderem von Künstlern wie Schauspielerin Nina Proll, Sängerin Angelika Kirchschlager oder dem Kabarettisten Alfred Dorfer unterstützt wird, will vom österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) klären lassen, ob der anhaltende Kultur-Lockdown im Widerspruch zur garantierten Freiheit der Kunst steht und tatsächlich ein gelindes und verhältnismäßiges Mittel zum Schutz vor dem Coronavirus darstellt.
Für Pilar López steht die Antwort bereits fest: "Mit diesen ganzen Maßnahmen fühle ich mich sicherer als im Supermarkt oder beim Friseur. Es ist wirklich schön, in einer solchen Atmosphäre wieder Oper genießen zu können", meint die 74-jährige Rentnerin und jubelt den "Norma"-Darstellern zu. Aber kürzer als gewöhnlich. Sie will schnell los. Um 23 Uhr beginnt in Madrid die Coronaausgangssperre.
Manuel Meyer/APA