Rechtsmediziner, Profiler und Forensiker erleben Hochkonjunktur. War Krimi bisher zu unrealistisch?
MICHAEL TSOKOS: Ich glaube nicht. Mit dem neuen Genre „True Crime“ geht man nur noch ein bisschen weiter. In meinen Augen ist es kein „wahres Verbrechen“, wenn Menschen, die sich beruflich nicht mit diesen Sachen auseinandersetzen, über einen echten Fall schreiben. Es liest sich anders, wenn echte Fälle von Fachleuten erzählt werden, so wie wir das jetzt machen. Florian Schwiecker ist Strafverteidiger, ich bin Rechtsmediziner. Wenn ich Bücher von echten Ermittlern lese, merke ich sofort, dass die wissen, wovon sie reden.
Haben Sie nicht Angst, dass man als „Normalo“ zu viel aus dem Nähkästchen erfährt?
TSOKOS: Ich gehe nie so weit, dass ich ausplaudere, wie man Leute um die Ecke bringt, wie man eine Leiche verschwinden lässt oder wie Rechtsmediziner nicht merken, wie jemand getötet wurde. Das erwarten die Leute auch nicht. Die wollen den wohligen Kitzel und wissen, dass das wirklich passiert ist. Und sie wollen, dass der Erzähler das auch echt erlebt hat. Beim Buch sind wir aber auch etwas weg von „True Crime“. Das ist mehr ein Justizkrimi, obwohl wir schon die Echten sind, die solche Fälle erleben. Aber es bleibt dennoch fiktional.
Ihre Auftritte etwa sind „Straßenfeger“. Woher kommt die Begeisterung für den Grusel?
TSOKOS: Egal, ob den „Tatort“ zwölf Millionen Zuschauer einschalten oder Bücher gekauft werden, es ist dieses wohlige Grausen. Der Fall ist echt passiert oder hätte passieren können, aber er ist nicht mir passiert. Ich kann das Buch einfach zuschlagen oder im Fernsehen wegzappen. Es ist ein Erfolgsschlüssel, dass man Türen aufmacht, gerade in meinen Büchern über die Rechtsmedizin, durch die sonst keiner hindurchwill. Ich kann das Buch ohne Gerüche, Geräusche und Anblicke durchlesen. Ich kann mein Kopfkino laufen lassen. Das kann man nicht, wenn man hier neben mir steht. Das ist dieser Reiz des Echten, verbunden mit dem Kopfkino.
Rechtsmediziner werden – mit Ausnahme von Professor Boerne im Münster-Tatort – unglamourös, meistens sogar als schrullige Typen dargestellt, die im Keller arbeiten. Ist das tatsächlich so?
TSOKOS: Das ist ein Irrtum. Ich kenne kein einziges rechtsmedizinisches Institut, wo der Sektionssaal im Keller ist. Der Leichenkeller ist unten, der Sektionssaal ist überall im ersten Stock, weil wir Tageslicht brauchen. Wir können Kohlenmonoxyd-Leichen nur bei Tageslicht sehen. Die erkennen Sie nicht im Keller bei Neonlicht. Das sind Mythen und Vorurteile. Auch dass wir uns irgendwelche Pasten unter die Nase schmieren. Kellermenschen sind wir definitiv nicht und wir gehen auch nicht zum Lachen in den Keller. Ich glaube, dass Rechtsmediziner besonders lebensfrohe Menschen sind, aber nicht in dem Sinne, dass wir immer besoffen sind und Geselligkeit brauchen, sondern dass wir das Leben bejahen. Das muss man auch, wenn man den ganzen Tag mit dem Tod zu tun hat.
Gibt es weitere Irrtümer?
TSOKOS: Wenn Angehörige die Verstorbenen im Sektionssaal identifizieren. Die Vorstellung wird auch bei Boerne und in anderen Tatorten häufig bedient. Aber es kommt niemals ein Angehöriger in die Rechtsmedizin.
Wieso?
TSOKOS: Hier laufen Mord-Ermittlungsverfahren, das ist ein abgeschlossener Bereich. Außerdem können Sie diese Anblicke den Leuten gar nicht zumuten. Denn wer hier bei uns liegt, ist entweder hochgradig fäulnisverändert, sodass wir ihn identifizieren müssen, oder er ist Opfer eines Gewaltverbrechens oder eines schweren Unfalls geworden. Die Identifizierung läuft nie über die Leiche, sondern über den Vergleich von Bildern durch die Polizei in der Wohnung. Da macht man es über den Zahnstatus oder Tätowierungen oder über DNA.
Sie haben das Buch mit einem Strafverteidiger geschrieben, der die harten Fälle der Clan-Kriminalität auf dem Tisch hatte. Was brachte das für Erkenntnisse?
TSOKOS: Das war unheimlich spannend. Wir haben diese Debatten wiedergegeben. Etwa, wenn der Rechtsmediziner Jarmer den Strafverteidiger Eberhardt fragt: „Wie können Sie eigentlich jemanden verteidigen, von dem jeder weiß, dass er einen Menschen umgebracht hat?“ Das ist für jemanden, der Medizin studiert hat und Menschen heilen will, nicht vorstellbar. Ebenso, dass solchen Verbrechern geholfen wird, ein möglichst mildes Urteil zu bekommen. Man kann trefflich darüber streiten, wieso das im Rahmen unseres Strafrechts möglich ist und warum man es ausschöpfen muss. Aber das ist Kennzeichen eines Rechtsstaates, selbst wenn klar ist, dass ein Mensch so etwas getan hat. Dann geht es mehr darum, warum er das getan hat und wie hoch das Strafmaß ist.
Professor Mark Beneke genießt als Kriminal-Biologe einen ähnlichen Kult-Status wie Sie. Was ist der Unterschied zum Rechtsmediziner?
TSOKOS: Beneke hat Biologie studiert und ist kein Mediziner. Er führt auch keine Obduktionen durch, kann auch nicht rechtsmedizinische Zusammenhänge vor Gericht darstellen. Er wird als Blutspuren-Gutachter bestellt oder wenn es um Insekten geht oder die Leichenliegezeit entscheidend ist.
Können Sie als Rechtsmediziner zur Beurteilung von Corona-Toten etwas sagen? Gibt es Besonderheiten?
TSOKOS: Mit denen haben wir gar nicht so richtig etwas zu tun, denn bei uns landen nur nicht-natürliche Todesfälle. Wenn jemand an Corona stirbt, dann ist es ein natürlicher Todesfall. Wir hatten ein paar tragische Fälle, wo alte Menschen im Heim an Corona verstorben sein sollen und dann obduziert wurden. Dabei kam dann heraus, dass die an einer Überdosierung von Schlaftabletten gestorben sind, weil sie einfach ruhiggestellt worden sind. Das finde ich sehr bedrückend. Um die Alten im Lockdown ruhigzustellen, gebe ich denen hochdosierte Schlafmittel und wenn ich Pech habe, sterben sie daran. Ich bin zwar als Rechtsmediziner viel gewohnt, aber so etwas erschüttert mich dann schon.
Ingo Hasewend