Center Shock. So nannte sich die süße Versuchung sauren Geschmacks für die Kinder der frühen 2000er-Jahre, also die Digital-Natives-Generation. In auffallenden Neonfarben verpackte, aber harmlos anmutende Zuckerl, die auf der Zunge sodann für einen beißend bitteren Geschmack sorgten. Natürlich wollte man davon immer mehr. Weil das Süße mit der Zeit fad und ähnlich schmeckt. Die Note fällt in Abstufungen immer gleich aus. Nicht so die Säuerlichkeit. Sie kann stechen, quirlen, brodeln, sich in die Höhe schrauben, abflachen. Wie man selbst.
Wer das Phänomen um Billie Eilish, den größten Popstar der Gegenwart, verstehen möchte, tut gut daran, sich an diesem unscheinbaren Zuckerl zu orientieren. Die 2001 in Los Angeles geborene Billie Eilish Pirate Baird O’Connell (die Eltern sind Künstler), ist der zu Mensch gewordene Center Shock. Sie ist der geborene Star, eigentlich aber auch wiederum nicht. Sie ist stur, liebt die Bewunderung, aber hat ihre Probleme mit der großen Aufmerksamkeit. Sie beschäftigte sich bereits mit elf Jahren mit Musik und Suizid, hat durch ihre Tourette-Krankheit Ticks, die in der glatt gebügelten Sternchen-Welt obskur wirken. Eine normale Schule hat Eilish nie besucht. Dafür hat sie mit 18 Jahren bereits fünf Grammys in der Recording Academy in L.A. eingeheimst.
Die 19-Jährige kleidet sich in dunkelbunten, aber vor allem übergroßen Gewändern. Irgendwo zwischen Hip-Hop und Gothic. Burschikos würde sich als Beschreibung anbieten. Wenn da nicht die bleistiftlangen Fingernägel, der klirrende Glitzerschmuck und die bewusst in Szene gesetzte „Ungeschminktheit“ wäre. „Ich habe mich noch nie begehrt gefühlt. Deshalb ziehe ich mich auch so an“, sagt Eilish in einem Interview. Unter den wallenden Gewändern ist Eilish von einer zynischen Melancholie bedeckt, die sie in ihren Liedern nach außen trägt. Sie singt über Ängste, Zweifel und das Scheitern. Ihre Lieder betitelt sie mit „Listen before I Go“ oder „Bury a Friend“. In ihren Musikvideos krabbeln Spinnen und stechen Spritzen. Damit erreicht sie Millionen von Hörerinnen und Hörern. Die Bitterkeit fruchtet vorzüglich. Allzu oft endet die Beschreibung der Jahrhundert-Sängerin genau an dieser Stelle. In Wahrheit funktioniert Billie Eilish nur deshalb, weil die Sängerin kein Produkt einer Plattenfirma ist. Sie verfolgt kein Konzept. Nur sich selbst. So wie das die auf sich allein gestellt Digital-Natives-Generation eben machen muss. All die schockierende Kulisse, die mutige Inventur der eigenen Dämonen, das anarchische Gegen-den-Strich-Bürsten. Diese Hülle wäre aber sinnlos ohne den musikalischen Kern.
Eilish produziert mit ihrem Bruder Finneas im gemeinsamen Tüftelzimmer Songs, die es so noch nie zuvor gegeben hat. Die Lieder sind ätherische Kahlschlag-Werke; traurig, aber frei von Selbstmitleid. Poetisch, aber nicht altklug. Sie pfeifen, wie die Künstlerin selbst, auf jede Schublade. Eilish hat in ihrem Musiklabor der dunklen Künste einen Klangstoff entwickelt, der bis auf die letzte Phrasierung ausbalanciert ist und nur in ihren Händen funktioniert.Das zeigt auch der Trailer der nun erschienenen Doku. Eilish singt nicht, sie flüstert. Manchmal ganz allein, manchmal begleitet von umso pragmatischeren Beats und Instrument-Tupfern. Sie liegt so verständlich und melodiös im Ohr, dass es schon fast unheimlich ist. Sie ist ein Digital Native, der sich die Möglichkeit, mit moderner Laptop-Software Musik zu komponieren, zu eigen gemacht hat. Stimmen werden geklont, bis ins kleinste Detail verfremdet, hundert Mal neu eingesungen, bis jeder Hauch stimmt. Auch das ist exemplarisch für diese Technik-Generation. Die Realität ist entgleist, die Technik, ob auf Instagram oder in der Musik, erlaubt die Perfektion. Billie Eilish versorgt diese Generation mit Gegengift. In Form von Center Shocks. Dieser Schock sitzt tief. Und gut.