Die Weltöffentlichkeit war verzaubert und gerührt, als Amanda Gorman bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten ihr emotionsgeladenes Gedicht „The Hill We Climb“ vortrug. Doch in den Niederungen des literarischen Alltags ist das Leben von Lyrikern – auch jenes der „jungen Garde“ – kein Gedicht, sondern ein harter Kampf. Ein Befund, den auch die beiden Autoren Christoph Szalay und Robert Prosser in einem Schwerpunkt zum Thema „Junge österreichische Gegenwartslyrik“ in der Literaturzeitschrift „Lichtungen“ getroffen haben. In ihrem „Versuch einer Verortung“ schreiben sie, dass es zwar eine Vielzahl von Publikationen und Autor*innen gäbe, es jedoch an Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit mangeln würde. Es fehle – im Gegensatz zu Deutschland etwa, wo bereits von einem „Comeback der Lyrik“ die Rede sei – in Österreich eine „fundierte und regelmäßige Auseinandersetzung mit Gedichten auf einer breiten Basis“.
An einschlägigen Initiativen, Zeitschriften, Verlagen und Lyriker*innen mangelt es österreichweit nicht, wobei vor allem der Süden des Landes sehr präsent und aktiv ist. In Kärnten gibt es mit Maja Haderlap, Gustav Januš, Cvetka Lipuš oder C. W. Bauer zahlreiche preisgekrönte Dichter*innen – um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Dazu zählt auch Dominik Srienc, der für sein literarisches Werk gerade mit dem Förderungspreis für Literatur des Landes Kärnten ausgezeichnet wurde und in seinen Gedichten gerne zwischen der slowenischen und der deutschen Sprache hin- und herwechselt. Er hat auch das Nachwort für Fabjan Hafners „Erste und letzte Gedichte“ geschrieben, die von Peter Handke ins Deutsche übersetzt wurden. Überhaupt ist die Kärntner-slowenische Lyrik eine starke poetische Stimme in Österreich und Verlage wie Wieser, Drava, Sisyphus, Hermagoras und Ritter tragen eine starke lyrische DNA in sich.
Rund zehn Prozent macht Lyrik bei Wieser und Drava aus, erzählt Erika Hornbogner, Geschäftsführerin der beiden Verlage: „Das ist für uns eine wichtige Sparte, aber es ist immer auch eine Gratwanderung: Wir verkaufen meist sehr wenig davon.“ Eine interessante Erfahrung hat sie in den letzten Monaten gemacht: „Derzeit bekommen wir wahnsinnig viel Lyrik geschickt. Offenbar nutzen vielen Menschen den Lockdown zum Schreiben oder sie kramen in Schubladen und finden alte Gedichte.“ Dass die Lyrik in Kärnten stark verwurzelt ist, spiegelt sich auch im Kärntner Lyrikpreis der Stadtwerke, an dem sich zuletzt rund 250 Autorinnen und Autoren beteiligten. Der Preis ging im Dezember an Eva Possnig-Pawlik.
In der Steiermark sind es wiederum Verlage wie Droschl, Leykam und vor allem die Edition Keiper, die jungen Lyriker*innen eine Veröffentlichungsbühne geben. In der Reihe „keiper lyrik“ sind bereits Gedichtbände von Sophie Reyer, Sonja Harter, Mario Hladicz, Marcus Pöttler und vielen mehr erschienen. Auch die „edition kürbis“ in Wies publiziert immer wieder Lyrik- bzw. Spoken-Word-Ausgaben.
Der Schriftsteller Helwig Brunner ist Herausgeber der „keiper lyrik“. Er spricht von einer sehr diversen und wortstarken österreichischen Lyrikszene, in der die Autor*innen in ihrer Arbeit oft „die Grenzen des Denkens und Sprechens sprengen“. Brunner: „Sie heben damit oft unsere Wahrnehmung aus den Angeln. Das ist sehr spannend und auch notwendig, auf der anderen Seite erreicht man damit nicht das große Publikum.“ Einen aktuellen Trend kann Brunner nicht orten: „In Form und Stil reicht das Spektrum vom fast schon erzählenden Prosagedicht über die Gedankenlyrik bis hin zum Sprachexperiment in der Avantgarde-Tradition. Am interessantesten sind für mich jene Dichterinnen und Dichter, die in keine Schublade passen.“ Und das sei bei den jungen Lyriker*innen auch oft der Fall: „Jede und jeder ist ihr und sein eigener Kosmos.“
Dass diese Wortwelt auch in absehbarer Zeit nicht in den Mainstream-Bereich eindringen wird, liegt für Brunner auf der Hand. „Lyrik wird im deutschen Sprachraum weniger wahrgenommen, als ihre Qualität es verdient. Das Publikumsinteresse, das Kaufinteresse und damit auch das Verlagsinteresse an Lyrik sind einfach viel geringer als an Prosa.“ Alles Dinge, worüber sich Amanda Gorman wohl nicht den Kopf zerbrechen muss.