Szene aus "Live"
Szene aus "Live" © Ashley Taylor

Tanz auf klassischer Basis, zeitgenössisch interpretiert, lebt nun auch in Wien wieder auf. Es gelang Neo-Ballettchef Martin Schläpfer, trotz aller Einschränkungen durch Corona ein vitales Zeichen zu setzen. Das war auch nötig, weil die Programmierung der letzten Jahre in Wien dieser speziellen transitorischen Kunstform eher geschadet hat, trotz formidabler Tänzerinnen und Tänzer.

Zwar ist das erste Stück „Live“ von Hans van Manen gute vierzig Jahre alt – da wird eine Tänzerin von einem Kameramann auf Schritt und Tritt gefilmt und das Video wird gleichzeitig projiziert. 1979 waren Technologie und Form noch neu. Schön, dass mit Henk van Dijk der Uraufführungs-Kameramann am Werk war. Er filmte die tanzende Olga Esina en detail, was eine spannende Kommunikation ergab. Doch sie verlässt die Bühne und tanzt im Foyer weiter, live übertragen von van Dijk. Mit Marcos Menha tanzt sie dort in einem Pas de deux, doch er ist unwillig und lässt sie stehen. Esina zieht einen Mantel an und verlässt in Spitzenschuhen die Oper, mit der Kamera auf den Fersen, bis sie in der kalten Nacht am Opernring verschwunden ist. Das Stück lebt von der Intermedialität, aber normal auch der Kopräsenz von Tänzern und Zuschauern. Diese waren aber vor ihren Bildschirmen, wodurch ein weiteres Medium dazukam und eine weitere Facette von Nähe und Distanz. An dieser Stelle ein Dank an die Wiener Staatsoper, die den Rezensentinnen unter strengen Auflagen ein Vor-Ort-Sein ermöglichte.

Nach der Reduktion dann Opulenz. Schläpfer nannte seine Choreografie zu Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4 schlicht „4“. Das Werk ist eine Reverenz vor dem gesamten Ensemble aus 102 Tänzerinnen und Tänzern. Die Bühne ist durch Lichtelemente gestaltet, wie das Dreieck an der Wand, das auch als „4“ gelesen werden kann. Schläpfer ist ein neoklassisch-moderner Choreograf, der tief ins musikalische Geschehen Mahlers und ins vertonte Gedicht aus „Der Himmel hängt voll Geigen“ hineinhört. Er choreografiert sehr am Punkt, vielleicht ein bisschen zu sehr, aber mit hoher Präzision, rasch wechselnder Rhythmik und starker Dynamik. Die Körper stehen mit deren Materialität im Fokus, nicht nur als Medium. Auch die Spitzenschuhe verleugnen diese nicht, mit ihnen darf laut gestampft werden. Große Linienführung, Brüche und Kontraktionen ergeben einen Flow, ein organisches Ganzes, auch zum Gesang der Sopranistin Slávka Zámecníková. Axel Kober leitete das Staatsopern-Orchester feinfühlig.

TV-Tipp: „4“ wird am 8. Dezember um 9.05 Uhr in ORF 2 gezeigt.