Susanne Rakowitz: Wir tanzen den Salonlöwentango

Eintauchen in dieses Wien nach der Jahrhundertwende 1900: Schillernd, abgründig, goldene Fassaden und mittendrin eine, die sie alle vor sich hertreibt: Oliver Hilmes leuchtet in „Witwe im Wahn“ (btb, 478 Seiten, 11,40 Euro) nicht nur die Figur der Alma Mahler-Werfel aus, sondern richtet den Röntgenapparat auf die Upperclass der damaligen Zeit. Ach, der Schein, der schöne Schein! Den Schillernden geben, aber die Schickeria elegant vorführen, das muss ein Wiener Schmäh sein, den Falco wie ein traumwandlerischer Hasadeur beherrschte. Man muss von ihm fast alles lieben, aber „Kann es Liebe sein“, da wird man fix „Emotional“. Robert Finster alias „Freud“ hätte in der gleichnamigen Netflix-Serie sei Freud. Für all jene mit Lust am Morbiden und großer Theatralik. Und Wien geht niemals ohne ein Wort, das seit jeher so schön der Leistungsgesellschaft den Mittelfinger zeigt: „Owezara“. Bussi!

Julia Schafferhofer: Es kann nur eine Hymne geben

Festwochen-Eröffnung 2019 und ein Gänsehaut-Moment: Der ganze Rathausplatz sang die Mutmachparole „Keine Angst“ des 2008 verstorbenen Sängers Hansi Lang. Kein Song eignet sich besser für den Zuspruch, den die beste Stadt der Welt und ihre Bewohner so dringend brauchen. „Ich lauf hinaus und schreib auf jedes Haus. Meine Liebe, meinen Hass. Ich schreibe: Keine Angst!“

Wien ist leiwand und Leinwand-Star. Niemand hat die versteckten Schönheiten mit Kleinem Café, Ring-Bim oder Friedhof der Namenlosen so hinreißend in Szene gesetzt wie Richard Linklater mit Julie Delpy und Ethan Hawke in „Before Sunrise“ (Sky Ticket, Amazon). Die lehrreichste Lektion über den politischen Sumpf und das hoffnungslose Nachkriegswien bietet immer noch „Der dritte Mann“ (iTunes, maxdome) mit Orson Welles, unbedingt in Kombination mit Bert Rebhandls gleichnamigem Buch (Czernin, 120 Seiten, 20 Euro). Für das junge, strizzihafte Wien mit all seiner Schludrigkeit sei Vodoo Jürgens' Kultalbum „Ansa Woar“ empfohlen, für ehrlichen Grind: alles von Stefanie Sargnagel, besonders ihr Neuling „Dicht“ (Rowohlt, 256 Seiten, 20,60 Euro).

Daniel Hadler: Ein- und Auftauchen in Alt-Wien

Das Gesetz der Hutsche gilt nicht nur, wenn man darauf sitzt. Nachdem es bergab gegangen ist, geht’s auch wieder bergauf. Warum nicht auf der „Strudlhofstiege“ (C. H. Beck, 944 Seiten, 28,80 Euro), Heimito von Doderer weist den Weg. Knapp zwei Kilometer vom Ort entfernt, wo knapp 100 Jahre später ein Terrorist um sich schießt, spannte der Wiener einen Erzählkosmos auf, der von allem und nichts handelt. Eine beiläufige Prägnanz, die sich auch im Anekdotenhaften von Karl Kraus wiederfindet. „Die letzten Tage der Menschheit“ (Jung und Jung, 800 Seiten, 28,80 Euro) des Fackel-Herausgebers bieten nicht nur in Wien besten Stoff für dunkle Lockdown-Nächte. Wem es danach nach nostalgischer Aufheiterung lustet, mag in jene Zeiten eintauchen, in denen noch erfolgreiches genuin wienerisches Fernsehen produziert wurde. Sei es die Weihnachts-Bürokratie der Wiener „MA 2412“ oder der bald 30 Jahre alte „Kaisermühlen Blues“ (beides abrufbar auf flimmit.at).

Martin Gasser: „A Feiasalamanda auf ana Gstätten aus Marzipan“

„Wean, du bist a Toschnfeidl unteran Himmel volla Schädlweh, a zehn Mal kochts Burenheitl, auf des i net haß bin, und trotzdem steh.“ – Niemand hat seine Gefühle für Wien feinfühlig-bombastischer ausgedrückt als André Heller und Helmut Qualtinger auf „Heurige und gestrige Lieder“ (Universal). Musik aus dem Hinterhalt. Ein würdiger Erbe ist Der Nino aus Wien, der auf „Down in Albern“ (Problembär Records), den Tagedieben, Alltagspoeten und Lebenskünstlern ein gewissenhaft schlampiges Denkmal setzt.

Die „Hinigkeit“ von Wien verband sich um 1900 mit dem Weltstadtglanz des Fin de Siècle in vielen literarischen Meisterwerken. Genannt sei der Roman „Der Meister des Jüngsten Tags“ von Leo Perutz, ein Krimi in „Drommetenrot“. (dtv, 208 Seiten, 10,20 Euro)

Kein Orchester der Welt klingt schöner als die Wiener Philharmoniker im Großen Musikvereinssaal. 1989 dirigierte Carlos Kleiber die Walzer, Polkas und Märsche im Neujahrskonzert: ein aus Schönheit, Melancholie und Temperament gewobenes Klangwunder (Sony).

Peter Schöggl: Strategien wider den Hustinettenbären

Wenn schon in der ersten Szene ein lautes „Oaschloch“ durch den Gemeindebau hallt, kann der Film nur aus Wien kommen. Was dann in „Muttertag“ (Flimmit) folgt, ist ein Feuerwerk an Wuchteln und Zitaten, die sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben, aber auch im Alltag hilfreich sein könnten. Zumindest, wenn sich einmal ein Hustinettenbär aufpudeln sollte. Das Aufpudeln passt dagegen so gar nicht in das Wien Ernst Moldens. Seine Kolumnensammlung „Wien Mitte“ (Deuticke, 320, 22,70 Euro) beschreibt Wien in seiner niederschwelligen, fast banalen Romantik. Das Gulasch beim Lusthaus im Prater oder das Wurstsemmerl an der Wienflusspromenade im Stadtpark, mit Blick auf das Luxusrestaurant.

Dieses wiederum war in RAF Camoras Jugend die Pizzeria Mafiosi im 15. Bezirk. 25 Schilling reichten dort um die Jahrtausendwende für eine Mahlzeit. „5 Haus“ (Wolfpack) schuf der Rapper ihr, dem ganzen Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus und dem Aufwachsen dort ein Denkmal. Eines zwischen Gangs, Junkies und „100 Fahnen von Galatasaray“.
(Wolfpack)