Gäbe es Corona nicht, würde man dem Team um Regisseur Christian Thausing (Choreografin Evamaria Mayer, den Ausstattern Okarina Peter & Timo Dentler sowie Lichtdesigner Sebastian Alphons) und dem sowohl balanciert singenden als auch glaubhaft spielenden Duo Ivan Orescanin und Susan Rigvava-Dumas, das das tolle Ensemble anführt (stellvertretend erwähnt: Josephine Renelt, Mario Lerchenberger), minutenlang "Bravo" zurufen. Doch die Welt hat sich geändert, das Aerosol eine neue Bedeutung. Und die Welt ist auch im Umbruch im russisch-jüdischen Dorf (Schtetl) Anatevka um 1905, auch wenn man sich dort dessen noch nicht richtig bewusst sein will. Und Traditionen hoch hält. Doch es nähern sich neben neuen guten Ideen und Selbstbestimmung auch das Grauen und Vertreibung.
Ein Juden-Pogrom, vor dem der Milchmann Tevje, die Hauptfigur des 1964 als „The Fiddler on the Roof“ am Broadway uraufgeführten Musicals, mit den anderen Dorfbewohnern flüchten kann. Ein Happy End sieht in der Musical-Welt freilich anders aus. Und "Anatevka" bricht nicht nur hier die Konventionen des Genres, wofür dieses Chor- und Ensemblestück mitunter auch als "Melancholical" bezeichnet wird. Das alles basiert auf einer Geschichtensammlung mit dem Titel "Tewje, der Milchmann" des russischjüdischen Schriftstellers Scholem Alejchem (bürgerlich: Salomon Habinowitsch), der, wie sein Tewje, 1905 nach Pogromen das Zarenreich verließ und 1916 verarmt in New York starb. Nach der Broadway-Premiere wurde es mit neun Tony-Awards (darunter in der Königskategorie Bestes Musical) prämiert und hatte eine der längsten Laufzeiten.
Natürlich treiben Liebesgeschichten und die Verheiratung der Töchter die Handlung in den knapp drei Stunden (mit einer Pause) voran, aber selten dreht sich ein Musicalabend, den man wie nach der Premiere in der Oper Graz beeindruckt und bewegt verlässt, um die Bewahrung von körperlicher wie kultureller Existenz. Doch was alles hat damit der "Fiddler on the Roof" zu tun? Ist er unsere innere Stimme, unsere innere Melodie, unser Gewissen? Ist womöglich "jeder von uns ist ein Fiedler auf dem Dach", wie es beim Opening heißt: "Jeder versucht eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich dabei das Genick zu brechen. Und das ist nicht leicht!" Thausing löst das wunderbar dank des ständig anwesenden Fiedlers auf dem aufgestellten Koffer, der im vorzüglichen, durch Sepia-Farbtöne ausgeleuchteten Bühnenbild ohnehin als Symbol für die ständige Reise der Juden steht, aber auch unser "Gestern - Heute - Morgen" symbolisiert. "Bei uns gibt der Fiedler Tevje Hinweise oder kommuniziert auf seine Weise mit ihm. Seine Weise ist die Geige, sprich die Musik. Ich bin der festen Überzeugung, dass über Musik Dinge erzählt werden, für die uns die Worte fehlen", erklärt der hoch talentierte Steirer im Programmheft.
Sollte es einen Branchen-Insider von Londons West End oder den Vereinigten Bühnen Wien (VBW) trotz Corona nach Graz verschlagen, wird er wohl nicht nur angesichts der Auflösung der Hochzeit von Tevjes ältester Tochter blass werden: Weltklasse! Inklusive der Chorleitung von Georgi Mladenov - bei "Anatevka" eine schöne Herausforderung.
Fazit: eine Sternstunde, die man gesehen haben muss! Wo auch der "Don Camillo"-Ansatz als Zwiegespräch mit Gott wunderbar gelöst ist. Bitte mehr von Thausing 2021/22!
"Anatevka (Fiddler on the Roof)": Buch: Joseph Stein; Musik: Jerry Bock; Gesangstexte: Sheldon Harnick. Deutsche Erstaufführung 1968 in Hamburg.
Regie: Christian Thausing; Musikalische Leitung: Marius Burkert.
Oper Graz. Termine: 18. (15 Uhr), 22. und 24. Oktober (jeweils 19 Uhr); 6., 8., 11., 13., 14., 18., 28. und 29. November (19 Uhr), sonntags um 15 Uhr. Derzeit sind Vorstellungen bis Mai 2021 angesetzt.