Es ist als blicke man über die Schultern eines Giganten. Vincent van Gogh verließ früh am Morgen des 27. Juli 1890 das „Auberge Ravoux“, ein Gasthaus im kleinen französischen Städtchen Auvers-sur-Oise. Es war ein heißer Tag. Der Pfarrersohn aus Nordbrabant ging nur 150 Meter weit die Rue Daubigny entlang und stellte seine Staffelei auf. Dort angekommen, malte er sein letztes Gemälde: „Tree Roots – Baumwurzeln“. Es zeigt Bäume und Wurzeln, die mit Sträuchern um den Platz kämpfen.

„Er malte daran vom Morgen bis zum Ende des Tages“, sagt Wouter van der Veen. Der wissenschaftliche Direktor des Van-Gogh-Instituts in Auvers-sur-Oise (Frankreich) hat der Welt eine Entdeckung präsentiert, die für Aufsehen sorgte: Dass es sich bei „Tree Roots“ um Van Goghs letztes Gemälde handelt, stand für die Fachwelt fest, doch van der Veen konnte den genauen Ort ausfindig machen, an dem er das Bild malte. Im März, mitten im Lockdown nach Ausbruch der Covid19-Pandemie, entdeckte der Van-Gogh-Experte an einer Postkarte die Ähnlichkeiten (siehe Interview).

"Lebewohl in Farbe"

Das „Van Gogh“-Museum in Amsterdam sowie ein Experte für Dendrochronologie (Baumringdatierung) wurden hinzugezogen. „Dieses Gemälde war sein Lebewohl in Farbe“, sagt van der Veen und fügt hinzu: „Es war immer ein unterschätztes Gemälde. Niemand verstand es. Nun können wir es lesen.“ Die Wurzeln würden alles zusammenhalten, aber sie gingen auch durch schwere Zeiten. Bäume, so van der Veen, haben auch einen menschlichen Aspekt: „Die Wurzeln weisen auf den Tod hin, auf den Kreis des Lebens. Für Van Gogh war der Tod nicht etwas, wovor er Angst hatte.“


Kurz, nachdem van Gogh sein (unvollendetes) Gemälde zur Seite gestellt hatte, fügte er sich einen Schuss in die Brust zu. „Es gibt keinen Raum für eine andere Erklärung“, sagt van der Veen. Er und Experten wie Louis van Tilborgh vom Museum in Amsterdam, wo „Tree Roots“ auch zu sehen ist, gehen vom Suizid Van Goghs aus. Gestorben ist der geniale Maler zwei Tage später an der Schussverletzung. Im Falle van Goghs ist sich Direktor van der Veen sicher, dass er gewusst hat, dass es sein letztes Gemälde war.

Gustav Klimt: "Die Braut"
Gustav Klimt: "Die Braut" © (c) Klimt-Foundation, Wien (Klimt-Foundation, Wien)


Als Gustav Klimt am 11. Jänner 1918 einen Gehirnschlag erlitt, war sich der österreichische Künstler nicht seines nahen Endes bewusst. „In diesem Moment hatte er mehrere Gemälde in Arbeit beziehungsweise nicht fertiggestellt“, sagt Franz Smola, Kurator der „Sammlung 20. Jahrhundert“ im Wiener Belvedere, „dazu zählen ,Die Braut‘, aber auch zahlreiche weitere Werke, wie etwa die Gemälde ,Adam und Eva‘ (...) oder ,Bildnis Amalie Zuckerkandl‘.“ Somit sei „Die Braut“ eines von zahlreichen „letzten Werken“ Klimts – es ist im Belvedere als Leihgabe der Klimt-Foundation zu bewundern und zeigt mehrere Frauendarstellungen. „Für mich erscheinen diese Frauen eher als bildgewordene Darstellungen von Gefühlszuständen, also als Variationen der Liebe, Lust, Leidenschaft, Erotik“, sagt Smola. Klimt wollte damit „in seiner Lust an der Darstellung erotischer Weiblichkeit schwelgen“. Das Bild zeigt auch den Bräutigam: „Nach all den Interpretationen zufolge sollte dies der Bräutigam sein.“ Nach dem Schlaganfall, wurde Klimt ins Allgemeine Krankenhaus Wien verlegt, wo er am 6. Februar 1918 starb.

Raffael und Leonardo

Raffael: "Transfiguration"
Raffael: "Transfiguration" © (c) akg-images / picturedesk.com
Da Vinci: "Johannes der Täufer"
Da Vinci: "Johannes der Täufer" © (c) Friedrich / Interfoto / picturedesk.com (Friedrich)


Viel weiter in die Vergangenheit reicht das letzte Gemälde Raffaels. An der „Transfiguration“, eine Darstellung Christi auf dem Berg Tabor, arbeitete der italienische Maler bis zu seinem Tod am 6. April 1520. Ein Jahr zuvor, am 2. Mai 1519, starb Leonardo da Vinci. Der, für den es nicht genug Worte gibt, schuf vermutlich als Letztes das Gemälde „Johannes der Täufer“, das im Pariser Louvre hängt. Und der Finger des Täufers weist zum Himmel.

"Intensiver Blick"

Maria Lassnig: "Selbstporträt mit Pinsel"
Maria Lassnig: "Selbstporträt mit Pinsel" © Maria Lassnig Stiftung/ Bildrecht, Wien 2020
Maria Lassnig: "Selbstporträt expressiv" von 1945
Maria Lassnig: "Selbstporträt expressiv" von 1945 © Maria Lassnig Stiftung/ Bildrecht, Wien 2020

Genug der Männer und ihrer letzten Taten: Die 2014 verstorbene Maria Lassnig schuf mit „Selbstporträt mit Pinsel“ ein eindrucksvolles letztes Gemälde. Für Peter Pakesch, Vorstand der Lassnig-Stiftung, ist dieses Porträt mit „Selbstporträt expressiv“ von 1945 verbunden: „1945 ist es die ganz junge Künstlerin, die im letzten Bombenhagel nach Klagenfurt zurückkehrt. Am Anfang einer großen und schwierigen Karriere steht.“ Das Bild ist „bewusst unfertig“ und „vermischt Zeichnung und Malerei“: „Der intensive Blick ist speziell. Ein Blick, der sie durch das Leben begleitet.“
70 Jahre später malt Lassnig ein ähnliches Bild: „Sie malt sich noch einmal als inzwischen 93-jährige Frau. Ein Halbakt. Im frühen Bild ist der Kohlestift, im späten Bild der Pinsel angedeutet, der auch eine Waffe sein kann.“ Eines fällt auf: „Beim letzten Bild sieht sie mit großer Geste und sehr bestimmend in die Welt.“ Lassnig „gebietet über die Malerei“. Noch einmal – quasi ein Schlussakkord.