Es ist reiner Zufall, gewiss, aber es verblüfft doch immer wieder, welche neuen, vom Autor keineswegs geplanten Querbezüge sich durch die Pandemie ergeben können. Wer denkt zum Beispiel nicht an den Namen Tönnies und sein gigantisches Schlachtimperium, wenn in einem Roman die zentrale Rolle eine Dynastie von Schweinezüchtern die Rede ist? Obwohl der exzellente französische Autor Jean-Bapiste Del Amo (39), für sein drastisches Debütwerk „Die Erziehung“ vor drei Jahren mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, ein gänzlich anderes Ziel vor Augen hatte. Er schuf, da muss gleich Entwarnung gegeben werden, keinCorona-Buch (die jetzt massenweise folgen werden). Aber er zeigt die Degradierung des Menschen und dessen höhnische Herabwürdigung zu einem Nutztier auf zwei Beinen. Und da lassen Tönnies & Co. grüßen, auf grauenhafte Weise.
Schockierend und entlarvend
Aber Del Amo hat mit seinem archaischen, wortgewaltigem Werk weitaus mehr im Sinn. Ihm genügt ein anfangs recht kleiner Schweinestall als Basis, um die nicht selten verheerende Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einem ebenso schockierenden wie entlarvenden Blickwinkel zu zeigen. Sein Roman „Tierreich“ führt in den hintersten Winkel der französischen Provinz, die Geschichte rund um eine Bauernfamilie, die es durch die Schweinezucht zu einigem Wohlstand bringen will, setzt ein mit dem Beginn des ersten Weltkrieges. Aber das Buch beweist auch, dass sich zumindest ein Teil des Weltgeschehens in einem Schweinestall unterbringen lässt. Als reale Gruselkammer.
Vertuschungen
Selten in jüngerer Zeit war ein enorm bedeutsames Buch so sehr geprägt durch Seelenfrost und durch einen eisigen und bitteren Erzählton. Die Welt als Schweinestall, sie bleibt hier keineswegs nur eine Metapher. Denn alle Angehörigen haben lediglich eine Aufgabe: sie müssen funktionieren, bis zum Umfallen. Und sie tun es auch, fernab von jeglicher Bildung schustern sie sich ihre eigene, blasphemische Frömmigkeit zusammen, alles ist dem Fortschrittswahn und der Modernisierung unterworfen. Grassierende Seuchen werden verheimlicht, koste es, was es wolle, chemische Keulen werden in Unmengen eingesetzt, um die eingepferchten Tiere rascher zu mästen. Profitgier gibt den Ton an, nur er zählt – und zahlt sich aus.
Verwoben ist diese exemplarische Familienchronik mit Ereignissen aus der „Welt da draußen“, Massenwahn steht mitunter gegen Massentierhaltung. Aber der Schauplatz ist austauschbar, zu finden samt all seinen Auswüchsen und Vertuschungen überall in Europa. Derzeit ist Westfalen an der Reihe.
Animalisch
Jean-Baptiste Del Amo zeigt Menschen am Rande des Verstummens, die Blut, sehr viel Blut an ihren Händen haben, aber er zeigt vor allem auch, grimmig, grausam, wie rasch das Animalische im Menschen alle Gefühle oder Emotionen verdrängt oder diese unter einem Berg von Moral, die nach Mist riecht und zum Himmel stinkt, verschwinden lässt.
Vom großen Umdenken ist in diesen Tagen oft die Rede, „Tierreich“ liefert einen Leitfaden dafür, unbarmherzig, entlarvend, unentbehrlich.
Jean-Bapiste Del Amo. Tierreich. Matthes & Seitz. 440 Seiten, 26,80 Euro.
Werner Krause