Herr Schenk, haben Sie in dieser seltsamen Zeit die Bühne vermisst?
OTTO SCHENK: Ich glaube nicht. Ich bin verkommen. Ich habe mit den Bühnenauftritten schon fast aufgehört, nur noch Lesungen mache ich mit großer Freude. Aber ich brauche immer Verführer, auch zum neuen Buch „Schenk, das Buch“ wurde ich von Michael Horowitz verführt. Der hat mich mein ganzes Leben lang fotografiert. Wir kennen uns urlange, er ist ein genialer Fotograf.

In „Der Kirschgarten“ standen Sie zuletzt noch auf der Bühne der Josefstadt. Kehren Sie zurück?
Ich weiß nicht, ob sie die Besetzung zustande bringen. Herbert Föttinger möchte es ohne mich nicht spielen.

Vermissen Sie Ihr Publikum?
Ja, und das Publikum scheint mich zu vermissen. Die Lesungen sind voll, wir haben sie nur verschoben. Hoffentlich auf empfängnisfreie Daten.

Wie ist es Ihnen während des Lockdowns ergangen?
Wahrscheinlich so wie allen. Ich wurde maskiert und vorsichtig besucht. Wir haben uns an die Regeln gehalten. Das ist nicht so schwer, wenn man eine schöne Wohnung als Asyl hat. Ich war auch am Irrsee. Da habe ich so eine ähnliche Vielfalt an Büchern und Kramuri.


Als der Fotograf und ich auf Sie gewartet haben, sagte er: „Das ist eine Wohnung mit Seele.“
Es kann alt werden. Es ist nichts Unmodernes. Es ist immer alles unmodern gewesen.

Gilt das auch für Sie?
Ja, meine Frau und ich sind den Vasen verfallen. Wir haben so lange Vasen gekauft, bis keine Stellfläche mehr frei war. Die letzte Fläche haben wir gestern geräumt und in Kisten verstaut. Ich habe da fast Abschied genommen. Kitsch ist ein wichtiger Bestandteil des Geschmacks, finde ich. Nicht alles ist duldbar. Aber alles, was Humor hat, ist duldbar, echter Humor, nicht der aufgesetzte.

Nach Ihrer langen Expertise: Was ist echter Humor für Sie?
Nach all den Jahren, wo ich damit zu tun hatte und es mein Werkzeug war, weiß ich immer noch nicht, was es ist. Ich glaube, dass jede Definition von Humor eine Einschränkung ist. Er ist trotzdem noch etwas anderes als das, was man sich darunter vorstellt.

Worüber haben Sie das letzte Mal gelacht?
Das weiß ich nicht, das muss Jahre her sein.

Das glaube ich Ihnen nicht.
So arg ist es nicht.

"Ich war ein Herzeige-Objekt und daraus hat sich der Komödiant entwickelt", erinnert sich Otto Schenk an seine Kindheit
"Ich war ein Herzeige-Objekt und daraus hat sich der Komödiant entwickelt", erinnert sich Otto Schenk an seine Kindheit © ORF

Waren Sie ein lustiges Kind?
Ich war ein sehr extrovertiertes, ein sich wichtigmachendes Kind, aber nicht intellektuell, sondern komischerweise komödiantisch – ohne dass ich je wusste, was das ist. Ich habe immer alle zum Lachen gebracht, sie zum Lachen verführt: meine Onkel und alten Tanten, meine Schwester und meine Cousins. Ich habe immer irgendetwas dargestellt, etwas nachgemacht und wurde hergezeigt. Das ist mir dann sehr auf die Nerven gegangen. Ich war ein Herzeige-Objekt und daraus hat sich der Komödiant entwickelt, wobei ich immer darauf geachtet habe, das Beobachtete wiederzugeben. Das Theater selber war mehr Unhold. Das Burgtheater war eine Zauberburg, wo ich nur mit Schreien hineingeführt wurde, bei der Loge herausgerannt bin und nur mit Mühe und Charme meiner Mutter dort gehalten wurde. Ich konnte es nicht leiden, aber später habe ich es geliebt. Erst die Komiker, die so reden, wie man redet, haben mich interessiert.

Wer weckte Ihr Interesse?
Der Ferdinand Maierhofer als Maikäfer – er ist vom Schnürboden heruntergelandet, das habe ich schon nicht leiden können. Dann ist er gestanden und die Kinder haben gesagt: „Maikäferchen, was willst du?“ Und da hat er gesagt: „Einen Schwarzen.“ Das war mein erster Lacher, an den ich mich erinnern kann. Das war ungefähr 1934.

Gehen Sie noch ins Theater?
Nicht mehr, aber ich bin immer regelmäßig gegangen, in die Oper noch viel mehr. Für mich ist die Oper das selbstverständlichere Theater. Denn wenn der Mensch etwas fühlt, muss er etwas singen. Da genügt die Sprache nicht, um es auszudrücken.

Man hat den Eindruck, als könnten Sie auf der Bühne alles machen.
Das ist ein großer Irrtum. Man muss sehr genau aufpassen, wenn man beliebt wird, dass man nicht bei sich selber zu beliebt wird. Man muss immer zweifeln an dem, was man macht. Vielleicht ist dieses leicht Ungeschickte, das ich nicht kultiviere, das Geheimnis, dass die Menschen mich verstehen. Ich war nie selbstsicher. Ich habe immer an meinem Talent gezweifelt. Ich hatte stets einen Verführer, der mehr an mich geglaubt hat als ich selber. Das ist eine heikle, tragische Lebensweise. Sehr unangenehm.

Das Zweifeln hat nie aufgehört?
Nie. Das wurde eher ärger. Meine ganz großen Erfolge waren die, die ich mir nicht zugetraut habe und die ein anderer von mir erwartet hat, wie die Inszenierung an der Met, den „Ring des Nibelungen“ zu machen.

Woran haben Sie nie gezweifelt?
An meiner Frau. Die „Miki“, so nenne ich sie, sie sagt „Hacke“ zu mir, ich weiß gar nicht, warum. An ihr habe ich nie gezweifelt, weil sie selber immer so rührend an sich gezweifelt hat und noch immer zweifelt. Ein Leben ohne sie kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Es ist alles sie. Diese Wohnung, mein Wunsch, von ihr vorausgeahnt und eingerichtet. Sie hat das aus einer Ruine entwickelt. Das ist meine Bücherei. Sie besteht aus drohenden Büchern, die ich alle ausgewählt habe oder die mir geschenkt wurden und die ich zum Großteil nicht gelesen habe. Jetzt stehen sie als drohende Tapete da. Ich hätte noch gerne ein bisschen mehr Zeit, daran zu naschen.

Wann waren Sie das letzte Mal in New York?
Mein Zeitproblem ist vollkommen verschwunden. Ich lebe nur mehr von Stunde zu Stunde.

Apropos Zeit. Am 12. Juni feiern Sie Ihren 90. Geburtstag. Bedeutet Ihnen diese Zahl irgendetwas?
Es bedeutet mir nichts. Ich bin ein Feind von Festtagen, von Jubiläen, von festgelegten Feiern. Ich feiere dann, wenn mir die Feier aufstoßt, und nicht, wenn sie mir auferlegt wird. Ich habe auch die Feier meines Geburtstags delegiert. Das machen jetzt andere und ich erdulde es nur. Ich freue mich natürlich, wenn die Menschen das ernst nehmen, dass ich noch auf der Welt bin, aber ein Erschrecken sind 90 Jahre schon. Man muss zutiefst erschrecken, wenn man so alt wird. Man hätte es sich nie gedacht und es ist vergangen wie ein Tag, das Leben.

Otto Schenk hat Julia Schafferhofer bei sich zu Hause empfangen
Otto Schenk hat Julia Schafferhofer bei sich zu Hause empfangen © Akos Burg

Machen Sie uns bitte ein bisschen Mut! Gibt es Dinge, die im Alter besser werden?
Besser im Alter kann man nicht sagen – aber man sieht ein im Alter. Wie das Wort genau heißt: Man sieht ein bisschen hinein und da wird vieles unwichtig und vieles wahnsinnig wichtig. Wichtig ist die Beziehung zu den Freunden, die einen umgeben, um die man bangt, denn die sind auch keine Kinder mehr. Wichtig ist die Beziehung zu meiner Frau, die ich neben mir im Krankenstuhl sitzen habe und in die ich verliebt bin. Das wird stärker und banger. Man bemerkt plötzlich das Wetter genau und spürt es bis in die letzten Glieder. Man hat plötzlich Glieder, die man noch nie gespürt hat. Und man hat Sorgen, die man noch nie gehabt hat. Es ist ein bewussteres Leben. Man hat ja nicht mehr den Beruf, aber man hat noch das Publikum vor sich, das mich sehen möchte.

Was treibt Sie noch an?
Das Lesen ist das, was mich noch antreibt, und das Schreiben komischerweise. Das ist ein neues Talent, ein altes Talent. Ich hatte es in der Kindheit, in der Schule. Als ich zum Theater ging, hat das Theater das vollkommen aufgefressen und ich habe nicht einmal mehr Briefe schreiben können. Als Direktor habe ich Briefe diktiert und die hat meine Sekretärin gesammelt und aus denen haben wir unser erstes Buch gemacht.

Sie sind seit 1956 verheiratet. Verraten Sie uns Ihr Geheimnis?
Die gute Ehe ist nur mit Liebe aufrechtzuerhalten und nicht einmal Liebe genügt, sondern Sie müssen sich ständig verlieben. Das ist mir immer gelungen, aber da ist meine Frau schuld. Sie war halt die Richtige, sie hatte meinen Geschmack und meinen Humor. Nicht dass sie über mich gelacht hat, ich lache ja über mich auch nicht.

Gar nie?
Ich finde, es ist die Aufgabe, dass die anderen lachen und nicht man selber. Ich habe die Komiker, die mit freudigem Gesicht die Bühne betreten, nie so geschätzt wie die ernsten und verzweifelten Nörgler.

Sie sind 1930 geboren. Wie geht’s Ihnen mit der Gegenwart?
Wir gehörten zu den Verfolgten, zu den Verfemten. Wir wurden zu Juden und Halbjuden erklärt, obwohl wir es gar nicht waren. Zwei Großeltern waren jüdisch und meines Vaters Großeltern alle vier. Trotzdem waren wir erstaunt. Das war ein ganz komisches Leben. Wann ist der Hitler nach Österreich gekommen?

1938.
Ich war acht Jahre alt und sofort wusste man, wohin man gehört. Ich war stolz auf meine jüdischen Verwandten. Das hat der Hitler über Nacht geschafft. Ich wusste, dass das falsch ist und dass er den Krieg verlieren wird. Das war gar nicht so leicht zu glauben in der Zeit seiner Triumphe und Pseudoerfolge. Das waren alles Pseudoerfolge. In derselben Woche, wo er bejubelt wurde am Heldenplatz, sind doppelt so viele Leute eingesperrt worden.
Werden diese Erinnerungen aus der Kindheit im Alter stärker?
Ich glaube schon. Dieses Buch weckt so viel in mir, das ist ein Sog-Apfel, ein Saug-Apfel. Ich rieche die Bilder. Man verliert im Alter ja den Geruchs- und Geschmackssinn, aber man schmeckt das Alte so genau.

Was schmecken Sie?
Den Sand vom Wörthersee oder den Tabakrauch von meinem Vater, wenn er Pfeife oder Zigarre geraucht hat. Ich durfte dann einen Zug machen. Wir wurden sehr frei erzogen, nicht unstreng, aber frei. Dadurch, dass man zu den Verfolgten gehört hatte oder zu Unmenschen erklärt wurde, war man in einem ständigen Dilemma: Man musste schauen, mit wem man verkehrt. Die Freundschaften entstanden so im Nebel. Und darin hat sich sehr viel Humor entwickelt. Den konnte Hitler einem nicht nehmen. Er hat die Großmutter umgebracht, er hat den Schmuck weggenommen, meinem Vater das Haus, den Beruf – aber den Humor konnte er nicht nehmen. Der war nicht nur unantastbar, sondern ein bisschen gefährlich für ihn. Ich glaube, er ist an der Humorlosigkeit zugrunde gegangen. Wie wohl alle großen Tyrannen und Maulhelden. Ich politisiere jetzt, das ist gar nicht meine Art. Da haben Sie mich geweckt.

Tut mir leid. Wechseln wir das Thema: Was wünschen Sie sich?
Dass es ein bisschen länger dauert, als es jetzt scheint. Ich habe noch allerhand zu erfüllen, ich weiß nicht genau, was. Ich hätte noch etwas zu sagen. Das merkt man an redseligen Interviews, dass ich ein Sprechsteller bin.

Gibt es noch ein Projekt, wozu Sie sich verführen lassen würden?
Ich wälze keine Projekte, das habe ich nie getan. Auch dieses Buch nicht. Ich habe nichts dazu beigetragen, außer dass ich es gelebt habe. Ich bin dem Leben sehr dankbar, dass es mich 90 Jahre nicht vergessen hat, und ich bin eigentlich ganz stolz darauf, dass ich an einem so schwierigen Unternehmen, wie die Schöpfung eines ist, teilnehmen durfte, und zwar so, dass ich ein bisschen aufgefallen bin. Ein bisschen aufgefallen, mehr ist es nicht. In zehn Jahren, zu meinem 100. Geburtstag, wird nicht mehr so ein großes Getue um mich sein.

Wenn Sie zurückblicken: Haben Sie ein zufriedenes Leben gehabt?
Ich würde sagen, dass ich mit meinem unzufriedenen Leben immer gut ausgekommen bin.