Das Kino als soziales Erlebnis hat Zwangspause, auch wenn die Filme selbst verkleinert auf TV-, Tablet- und Telefon-Bildschirmen überleben. Eine neue Art von filmischem Erlebnis entwickelt sich derweil mit Virtual Reality (VR), einer dreidimensionalen 360-Grad-Erfahrung mittels Video-Brille. Neben Filmen boomt vor allem der Gaming-Bereich, diverse Business-Anwendungen und Pornografie. Seit 2018 sind VR-Brillen vermehrt auch für den Heimgebrauch zu erwerben.
Ob VR-Filme eine neue Kunstform sind, ist Ansichtssache. Klar ist aber, dass VR-Brillen einen Sprung in eine neue Erfahrungswelt bieten. Dreidimensional und vor allem ein 360-Grad-Panorama rund um einen herum – das kann weder Kino noch Fernsehen. Dabei handelt es sich keineswegs nur um technischen Kinderkram oder Avantgarde-Spielereien, sondern teils um ernsthafte künstlerische Beiträge. Auch in Österreich zeigten in den vergangenen Jahren die Filmfestivals VIS, Let’s cee und Diagonale teils versteckte Specials zum virtuellen Kino.
Beim ältesten Filmfestival der Welt in Venedig wird 2020 – wenn es diesen September überhaupt stattfinden kann – wieder eine eigene Insel dem virtuellen Kino gewidmet sein. In Sichtweite des Lido di Venezia, wo zweidimensionale Filme auf der großen Leinwand des Palazzo di Cinema ihre Weltpremiere feierten, liegt die kleine Insel Lazzaretto Vecchio.
Einst war dort eine Quarantäne-Klinik für Pestkranke. Nun bieten die alten Steinmauern den perfekten Raum für die Visionen und Illusionen der virtuellen Kinowelten. Neben einzelnen Stationen können im VR-Theater auch etwa zwei Dutzend Besucherinnen und Besucher auf Drehstühlen nebeneinander virtuelles Kinofeeling genießen.
Die Kabel der Brillen hängen von der Decke wie in einer freundlichen Version der „Matrix“-Welt. Der Kurator der Virtual-Reality streute den Menschen hinter dem Experiment Rosen: „Wir sind extrem beeindruckt, wie mutig ihr als VR-Filmemachende Neues ausprobiert, ähnlich wie ein Seiltänzer ohne Sicherheitsnetz. Ihr erfindet neue Wege, die Technologie anzueignen und dabei Emotionen zu transportieren, genauso, wie es das Erzählkino tut.“
Noch steckt VR im Lumiere-Zeitalter
Die Zukunft scheint gegenwärtig, eine allgemeine Neugier und viel kreativer Optimismus liegen in der Luft. Auch wenn sich die Technik der Brillen rasend in puncto Auflösung, Blickwinkel und Bildwiederholrate verbessert, noch steckt VR im Lumière-Zeitalter. So ungefähr müssen sich die Kinobesucher vor dem Jahr 1900 gefühlt haben, als sie die ersten projizierten Filmaufnahmen gesehen haben. Das Publikum weiß oftmals noch nicht so recht, was es über spielerisches Staunen hinaus mit der Virtualität anfangen soll. Und auch die kreativen Filmemachenden experimentieren noch mit den technisch-erzählerischen Möglichkeiten, wie einer der beiden VR-Kuratoren des Venedig Filmfestivals, Michel Reilhac, betont: „Wir sind noch in der Kindheit des Mediums, wir haben keine Bibel, die uns sagt, was zu tun ist und was nicht, was es heißt, mit räumlicher Erfahrung im Gegensatz zu einer rein zeitlichen Kinoerfahrung umzugehen. VR ist nicht nur eine technologische Neuerung, es ist eine vollwertige Kunstform. Wir sind Zeuge ihrer Erfindung. Das ist eine einmalige Gelegenheit, diese neue künstlerische Sprache mitzugestalten.“
Egal, ob animiert oder mit echten Schauspielenden gefilmt, das Entscheidende bei alledem ist die gesteigerte Präsenz und Immersion, die einen im besten Fall alles außerhalb der Brille schnell vergessen lässt. Wichtig ist dabei immer auch die Sound-Ebene, die mit Raumklang die Aufmerksamkeit innerhalb der dreidimensionalen 360°-Welten lenkt. Viele sind beim ersten Ausprobieren überrascht von der immersiven Wirkung.
Virtueller Avatar
Als kollektives Kinoerlebnis in der analogen Welt außerhalb des Wohnzimmers hat es die virtuelle Realität freilich schwer, auch wenn einige VR-Cafés etwa in Frankreich oder in der Schweiz neben Video Games auch filmische Erfahrungen anbieten. Doch sogar das Kino selbst lässt sich virtualisieren, wie die App BigScreen zeigt.
Als virtueller Avatar sitzt man damit mit anderen Avataren im virtuellen Kinosaal – vom Vintage Cinema bis zum Autokino – und sieht sich herkömmliche „flache“ Filmklassiker an. Eine reichlich absurde Erfahrung, die in Zeiten des Social Distancing aber eine neue gemeinschaftliche Ernsthaftigkeit bekommt. Sogar Kino-Konkurrent Netflix lässt sich im virtuellen Kinosaal konsumieren.
Noch ist unklar, wohin sich filmisches VR in den kommenden Jahren entwickelt. Wer sich auf jeden Fall über frischen virtuellen Content freuen wird, sind jene italienischen Strafgefangenen, die im Film „VR free“ begleitet werden, wie sie von ihrer Zelle aus plötzlich mitten ins virtuelle Fußballstadion eintauchen. Doch nicht nur für sie gilt: Die virtuelle Realität kann und will kein Ersatz sein für reale Freiheit und Erfahrung. Ebenso wenig wie das Kino.
Marian Wilhelm