Für die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk hat die Corona-Pandemie die Schwäche der Idee einer Europäischen Gemeinschaft offenbart. "Die EU hat im Grunde kapituliert und es den Nationalstaaten überlassen, in dieser Krisenzeit Entscheidungen zu fällen", schrieb sie in einem Beitrag der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
"Die Schließung der Grenzen halte ich für die größte Niederlage in diesen schlechten Zeiten", so die 58-Jährige, die in diesen Tagen beim "Literasee"-Festival in Bad Aussee auftreten hätte sollen. Die traurige Wahrheit sei, dass im Augenblick der Gefahr das Denken in den Kategorien von Völkern und Grenzen zurückgekehrt sei. "Die vielen Grenzen, die zugeknallt wurden, und die riesigen Schlangen an den Grenzübergängen waren sicher für viele junge Menschen ein Schock. Das Virus erinnert uns: Die Grenzen existieren weiter, es geht ihnen gut."
Tokarczuk rechnet damit, dass die Welt nach dem Virus eine andere sein wird: "Vor unseren Augen verfliegt, verraucht ein Paradigma der Zivilisation, das uns über die letzten zweihundert Jahre geformt hat. Es lautete: Wir sind die Herren der Schöpfung, wir können alles, und die Welt gehört uns. Jetzt kommen neue Zeiten."
Olga Tokarczuk erhielt 2019 den Literaturnobelpreis für das Jahr 2018, der damals wegen eines Skandals bei der Schwedischen Akademie ausgefallen war. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch der Roman "Die Jakobsbücher".