In ihrem Buch "Ich und die Anderen" analysierte vor zwei Jahren die Wiener Philosophin und Publizistin Isolde Charim, "wie die neue Pluralisierung uns alle verändert". Im Interview spricht sie über die die neuen, rasanten Veränderungen in der Gesellschaft, die vor wenigen Wochen noch undenkbar gewesen wären.
Für das, was wir jetzt gerade erleben, haben Politiker verschiedene Begriffe geprägt, sie reichen von "Gesundheitskrise" bis zu "Krieg". Welcher Begriff schiene Ihnen adäquat - und warum?
Isolde Charim: Gesundheitskrise scheint mir ein zu schwacher Begriff, zu sehr auf einen Bereich begrenzt. Krieg hingegen erscheint mir zu stark im Sinne von zu martialisch und irreführend in Bezug auf die Herausforderung. Ich denke, wir erleben vielmehr ein "totales gesellschaftliches Phänomen", das alle Bereiche gleichzeitig und mit einem Schlag betrifft.
Was sind für Sie die bemerkenswerten Entwicklungen der vergangenen drei, vier Wochen?
Charim: Wie unglaublich schnell und reibungslos sich das bislang Unvorstellbare vollzogen hat: das Einbremsen der großen Weltmaschine, das Schalten auf Leerlauf, die gänzliche Umstrukturierung von Lebensformen, von ökonomischen und gesellschaftlichen Praktiken, von kulturellen Umgangsformen. Die instantane, praktische Umdefinition von Gesellschaft - der Umbau der Gesellschaft bei laufendem Betrieb.
Überrascht Sie, mit welcher Ruhe und Gelassenheit sich eine Gesellschaft im "Krisenmodus" sehr viele jener Freiheitsrechte nehmen lässt, auf die wir eigentlich seit Etablierung der Demokratie immer so stolz waren?
Charim: Ja und nein. Aber eher nein. Zum einen, weil die Gefahr so konkret ist und weil sie auf jeden Einzelnen zielt. Und zum anderen, weil die Umstellung aller Lebensformen mit einer Umstellung der Politik einhergeht: Die Politik schaltet - legitimiert durch den wissenschaftlichen Imperativ - um auf den Modus "Biopolitik", also eine Politik, die sich rein aufs Biologische bezieht - und die Subjekte schalten um von Bürger (also Rechtssubjekt) auf Körper.
Wie unterscheiden sich für Sie die von der Politik gesetzten Maßnahmen von denen eines autoritären Regimes (außer, dass Sie mit Gesundheitsprävention begründet werden)?
Charim: Ob sie sich wirklich davon unterscheiden, werden wir erst hinterher genau wissen. Dann werden wir sehen, ob sie demokratisch gewesen sein werden. Jetzt aber haben wir einen Mix aus Verordnungen und Appellen - also Zwang und Aufruf zur Freiwilligkeit. Das adressiert nicht nur den Untertanen, sondern gewissermaßen den verantwortungsvollen Körper.
Ab wann überwiegt die Verantwortung für abstrakte Werte gegenüber jener für die Gesundheit? Letztlich könnten doch sonst ad infinitum die Beschränkungen weitergeführt werden, "damit das Virus nicht wieder zurückkommt"? Wann wird quasi Widerstand Pflicht?
Charim: Da gibt es keinen zukünftigen richtigen Moment. Es braucht permanent Stimmen, die daran erinnern, dass das temporär ist. Viel problematischer scheint mir die gesellschaftliche Stimmung, die den Konsens jetzt so rabiat verteidigt. Wie schnell so ein Klima entsteht und wie schwer es sein wird, das zu überwinden.
Wie kann bzw. sollte die Zivilgesellschaft in den kommenden Wochen als Watchdog fungieren?
Charim: Das sollte sie sicher. Aber das wird nicht reichen. Da braucht es auch ein politisches Korrektiv. Etwa seitens der Opposition.
Wie kann sich die Opposition bei dieser Art freiwilligen Selbstausschaltung demokratischer Spielregeln verhalten?
Charim: Wir erleben, dass das, was sich hinter der freundlichen Fassade der Demokratie immer verbirgt - nämlich Macht - jetzt direkt auftritt. Aber das, was derzeit passiert, ist ja noch demokratisch legitimiert. Es ist eine Gratwanderung. Heikel wird es, wenn diese Gratwanderung zum erzwungenen Konsens wird. Und genau in dieser Zwickmühle steckt die Opposition.
Wie sehr verändern diese Maßnahmen auch die psychosoziale Befindlichkeit dieses Landes?
Charim: Diese Veränderung ist, glaube ich, massiv. Wir haben noch keine Vorstellung davon, wie weit sie geht. Aber die Gesellschaft hat die rasante Transformation von Sebastian Kurz von Kanzler in Hirte mitgetragen: von Bevölkerung in Herde.
Plötzlich sind andere "große Themen" nicht mehr präsent, von der Flüchtlingskatastrophe bis zur Klimakatastrophe. Haben sich die Maßstäbe da ohne Grund verschoben? Wer ist dafür verantwortlich?
Charim: Nicht die Maßstäbe haben sich verschoben, sondern die Art der Präsenz. Weder Klima- noch Flüchtlingskatastrophe waren je in der Art präsent, wie es das Virus ist. Da gibt es eine andere Art von Betroffenheit und damit von Konkretheit für den, für alle Einzelnen.
Wie wird sich die "Coronakrise" auf diese beiden Mega-Themen auswirken?
Charim: Ich bin kein Prophet. Aber was die Flüchtlinge anlangt, scheint mir die Situation noch aussichtsloser zu werden, als sie es ohnehin schon war. Und ob der wirtschaftliche Druck, den wir wohl zu gewärtigen haben, den Klimafragen allzu zugewandt sein wird, ist auch fraglich. Aber bevor man sich in allzu düstere Zukunftsszenarien verliert - die Situation ist derzeit offen. Und schwierig genug.
Gibt es derzeit mit Nachbarschaftshilfe und Rücksichtnahme einen ähnlichen Effekt wie die "Willkommenskultur" zu Beginn der Flüchtlingskrise? Wann wird das umschlagen? Und wie wird das dann aussehen?
Charim: Ich würde, so nett das alles ist, es nicht überbewerten. Das ist keine solide gesellschaftliche Grundlage, sondern eine momentane Reaktion, die noch auf einer Situation der Fülle beruht, auf einer Situation, die einen Mangel erst antizipiert. Umschlagen könnte das, wenn der Mangel - welcher auch immer - schlagend wird.
Das Verbot der öffentlichen Teilhabe, der Rückzug ins Private - verstärkt das Tendenzen, die u.U. bereits vorhanden waren? Droht das sprichwörtliche "neue Biedermeier"?
Charim: Nein. Ganz und gar nicht. Im Biedermeier steht das Heim und das Häusliche für Idylle. Beim erzwungenen Rückzug jetzt sind die vier Wände Schutz vorm Unheimlichen. Das, was wir jetzt erleben, verstärkt auch nicht die Tendenzen zur Vereinzelung, in die uns der Neoliberalismus eingeübt hat. Auch da handelt es sich um ein konträres Phänomen. Das vereinzelte neoliberale Subjekt versteht sich als Sieger. Die Vereinzelung hat etwas Triumphalistisches. Die Vereinzelung, die wir jetzt erfahren, ist Folge unserer Verletzlichkeit, unserer Schwäche. Das ist die gegenteilige, bittere Erfahrung.
Sehen Sie auch sonst mögliche Auswirkungen auf unser künftiges Verhalten? Weniger Reisen? Bewusste Entschleunigung? Noch stärkere Vereinzelung?
Charim: Das lässt sich noch schwer abschätzen. Ich sehe erst einmal die unmittelbare Bedrohung der Gesundheit. Dann die ökonomische Bedrohung, die wahrscheinlich mit einer verschärften Gangart begegnet wird. Wofür die verletzlichen Subjekte denkbar schlecht gerüstet sein werden. Und ich fürchte, die Erfahrung, dass der Andere, jeder Andere eine potenzielle Bedrohung ist - ich fürchte, diese Erfahrung wird sich tief ins kollektive Bewusstsein einbrennen.
Politisch gesehen haben wir eine weitgehende Selbstaufgabe der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erlebt, sogar Grenzschließungen, wie sie vor kurzem undenkbar gewesen wären. War das jetzt das Ende der Europäischen Union (zumindest in der Form, wie wir sie bisher kannten)?
Charim: Auch wenn Brüssel-Adepten sich beeilen zu versichern, dass das Gesundheitswesen ja in der Hoheit der jeweiligen Nationalstaaten liegt, so kann man sich nach dieser Erfahrung kaum vorstellen, auf welcher Grundlage die Europäische Union weitermachen sollte. Dazu kommt jetzt noch der Sündenfall Ungarn. Ein kraftvolles europäisches Projekt ist nicht wirklich am Horizont. Vielleicht geht aber seine Zombie-Existenz noch in die Verlängerung.
(Die Fragen stellte Wolfgang Huber-Lang/APA)