Frau Hirn, in Ihrem neuen Buch „Wer braucht Superhelden“ plädieren Sie unter anderem für die Vernunft als eine Superkraft. Insbesondere erwähnen Sie die Superkraft gegen Fake News – und die Irrtümer in Bezug auf Argumenten von Autoritäten, Volksmund oder Ähnlichem. Vieles von dem, was im Buch steht, wirkt brandaktuell. Welche Rolle spielt denn die Vernunft in Zeiten von Corona?
LISZ HIRN: Wir haben ja mittlerweile nicht nur alternative Fakten, sondern auch alternative Ängste. Wir fürchten uns sehr oft vor dem Falschen. Vernunft kann helfen, zwischen berechtigten und unberechtigten Ängsten zu unterscheiden.
Die Art, wie wir Angst ausleben, wie Panik gemacht wird, und wie diese politisch instrumentalisiert wird, schürt das Bedürfnis nach einem Superhelden oder einem anderen „starken Mann“, der uns rettet. Aber wir müssen uns damit arrangieren, dass diese Welt kein sicherer Ort ist. Trotz technologischem wie medizinischem Fortschritt gibt es sie nicht – die totale Sicherheit.
Können Sie kurz skizzieren: Was bedeutet das für den Einzelnen? Was für den Nationalstaat? Und was global betrachtet?
LISZ HIRN: Die Probleme, mit denen wir aktuell konfrontiert sind, ob Covid-19, Klimakrise, Flüchtlingskrise an der EU-Grenze: National lassen sich diese allesamt nicht lösen. Sie sind globale, multikomplexe Herausforderungen, auf die es keine einfache Antwort gibt. Was erwarten wir also von unseren Politikern? Wenn wir erwarten, dass sie moralisch handeln, könnte das für uns vielleicht unangenehme Folgen haben. Wir müssten vielleicht in der einen oder anderen Sache zukünftig für das Wohl anderer oder aller zurückstecken müssen, siehe freiwillige Quarantäne, Nichtraucherschutz, CO2-Steuer etc. Sind wir dazu bereit? Oder beschließen wir dann, diese unbequemen Politiker einfach nicht mehr zu wählen?
Ist der Mensch denn prinzipiell fürs Vernünftigsein gemacht – oder warum fällt uns das so schwer?
LISZ HIRN: Um mit Kant zu antworten: Der Mensch ist vernunftbegabt. Die Frage ist, ob er diese „Begabung“ entfalten kann oder ob er lieber unmündig bleibt. Dieses Denken, diese Vernunft, diese Urteilskraft, muss man entwickeln, kultivieren. Ist diese nicht vorhanden, kann ich leichter zum Opfer der Gefühle werden, die oft von Politik, Medien und Gesellschaft geschürt werden.
Wen sehen Sie als große Verlierer dieser Krise?
LISZ HIRN: Es ist nicht zu empfehlen, einen Wettbewerb darüber zu starten, wer am meisten verlieren wird oder schon am meisten verloren hat. Wir sind alle betroffen. Jetzt gilt es beispielsweise, die abzusichern, die derzeit kein Einkommen haben, die, die Gewalt in der Familie ausgesetzt sind, nicht im Stich zu lassen und die „eigene Moral“ aufrechtzuerhalten.
Von spontanen Balkonkonzerten bis zu schnell gegründeten Nachbarschaftshilfen reicht die neue Solidarität. Rücken wir als Gesellschaft wieder näher zusammen?
LISZ HIRN: Im Moment sehen wir erfreulicherweise ein hohes Maß an Solidarität. Durch die eigene Betroffenheit ist die Solidarität und die Empathie größer. Allerdings ist diese Pandemie eine „Marathonanstrengung“. Wir müssen darauf achten, dass uns nicht auf halber Strecke die Puste ausgeht und die Stimmung umschlägt.
Welche Rolle spielt denn Solidarität innerhalb der Vernunft? Jüngere Menschen klagen an, dass ältere nicht zu Hause bleiben, andere wiederum regen sich auf über jene, die weiter rausgehen. Orten Sie eine Vernunftpanik?
LISZ HIRN: Vernunft und Panik – diese Begriffe schließen einander aus. Haben Sie wirklich Panik vor zu viel Vernunft? Sobald wir in Panik geraten, kommt es zur Einschränkung menschlicher Fähigkeiten wie der Vernunft.
Und wie viel Optimismus und positives Denken braucht es zur Bewältigung der Krise?
LISZ HIRN: Mehr als Optimismus braucht es auch finanzielle Unterstützung. Vor allem auch der jungen Menschen, von denen bereits viele vor der Pandemie sehr prekär und mit vielen Unsicherheiten leben mussten. Daher der Appell, sie zu unterstützen, auch finanziell. Viele der jungen Generation sind gut ausgebildet und haben trotzdem nicht die Möglichkeit, sich das Gleiche wie die Elterngeneration aufzubauen, die neben den eigenen Anstrengungen auch in den Genuss eines jahrzehntelangen Booms gekommen ist. Ein Boom, der den nachfolgenden Generationen aber auch einiges an Problemen hinterlässt. Hier wird es nach der aktuellen Krise die aktive Beteiligung der älteren Generation brauchen. Wir sollten nicht unterschätzen, dass wir hier sehr positiv auf die Zukunft einwirken können, zum Beispiel, wenn wir jetzt oder spätestens in ein paar Monaten in die Ideen der Jugend investieren.
Die sozialen Medien sind voll von Tipps zu Work-outs im Wohnzimmer, Kochtipps und Homeoffice-Regeln. Ist es empfehlenswert, den Fake-Alltag weiter zu leben?
LISZ HIRN: Das Bedürfnis, ein Mindestmaß an Normalität aufrechtzuerhalten, dem Leben Rhythmus zu geben und das Chaos zu ordnen, ist verständlich. Ich würde davor warnen, die Zeit der Isolation während der Ausgangssperren mit To-do-Listen zu kaschieren und Normalität zu „faken“. Je länger die Krise dauert, desto schwieriger wird es werden, diese Pseudo-Normalität aufrechtzuerhalten. Wir sollten das Leben nicht auf die Zeit danach verschieben, diese Zeit jetzt ist ein Teil unseres Lebens.
Welche Philosophen und Philosophinnen sollte man jetzt lesen?
LISZ HIRN: Jetzt? Das ist das Schöne an der Philosophie, dass ihre Themen zeitlos sind. Aktuelle Aspekte finden sich zum Beispiel im Manifest von Donna Haraway, in dem sie über Cyborgs nachdenkt, oder bei Martha Nussbaum, die in „Königreich der Angst“ über Gerechtigkeit in Zeiten von Donald Trump diskutiert. Wer es literarischer mag, dem empfehle ich Albert Camus’ „Die Pest“ und „Trost der Philosophie“ von Boethius.