"Heute war einer der schlimmsten Tage meines Lebens", sagt ein Schweizer Filmemacher, der in New York lebt. "Neun Jahre harte Arbeit hat sich gerade in Luft aufgelöst." Sein neuer Dokumentarfilm hätte im April auf dem Tribeca Filmfestival Premiere feiern sollen, aber um die Ausbreitung der Corona-Pandemie einzudämmen, ist das kulturelle Leben in der Millionenmetropole zum Stillstand gekommen.

Obwohl die Ausbreitung des Coronavirus bereits vor zwei Wochen schon in aller Munde war, konnte man hier in Manhattan in der Carnegie Hall immer noch ein Konzert mit Musikern aus aller Welt besuchen - als Künstler aus Europa noch in die USA einfliegen durften. Doch das Bewusstsein für die Gesundheitskrise war bereits spürbar: Eine Frau, die im Publikum hustete, hielt ihre Hand verlegen vor den Mund, ein paar böse Blicke genügten und sie setzte sich schamrot ein paar Reihen weiter weg. Die New Yorker sind ein krisenerfahrenes Volk. Sie haben die Anschläge vom 11. September verarbeitet und Hurrikan Sandy überlebt, aber jetzt droht die Angst vor dem Unsichtbaren, vor dem Atmen derselben Luft, dem Berühren desselben Treppengeländers und desselben Bankomaten.

Die Stadt, die niemals geschlafen hat, verriegelt sich
Die Stadt, die niemals geschlafen hat, verriegelt sich © AP

Vergangenen Donnerstag hat Gouverneur Andrew M. Cuomo in New York den Ausnahmezustand ausgerufen. Inzwischen haben sich offiziell 950 Menschen im Bundesstaat mit dem neuen Virus infiziert - die meisten Fälle in den USA. Das Kulturleben der Stadt mit 8,6 Millionen Einwohnern ist deshalb weitgehend zum Stillstand gekommen. Seit Jahrzehnten hat der Broadway, das Herz der amerikanischen Theaterindustrie und für viele Künstler ein wirtschaftliches Lebenselixier, durch Kriege und Rezessionen seine Vorhänge hochgehalten. Vergangenen Donnerstag fielen sie dann doch für alle derzeit laufenden 31 Theaterstücke und Musicals. "Temporarily closed" heißt es überall. Am Majestic Theatre in der Nähe des Times Square, in dem sonst "Das Phantom der Oper" gespielt wird, hängt ein Zettel an der Eingangstür: "Aufführungen bis zum 12. April abgesagt."Nach Tagen des Zögerns erließen Gouverneur Andrew M. Cuomo und Bürgermeister Bill de Blasio neue Beschränkungen, um die Ausbreitung des neuen Virus zu stoppen. Es war klar, dass einer der beiden eine Schließung anordnen musste, da die Versicherungspolicen den Shows nur dann Schutz bieten würden, wenn eine Pause von der Regierung angeordnet werden würde.

Was folgte, glich einer Springflut. Bis Freitagmorgen hatten fast
alle Kunst- und Kultureinrichtungen ihre Pforten geschlossen,
darunter das Metropolitan Museum of Art, das Whitney Museum, das Guggenheim, die Metropolitan Opera, die Carnegie Hall und die New
Yorker Philharmonie. Die Bibliotheken sind seit Montag geschlossen, und öffentliche Veranstaltungen wurden abgesagt. Wo sich einst Menschenmassen tummelten, herrscht jetzt Leere.

Kinos hatten am längsten gehofft

Während eines ängstlichen Wochenendes also, an dem der Ausbruch des Coronavirus die Schließung vieler kultureller Einrichtungen und die Absage unzähliger Events erzwungen hatte (#CancelEverything wurde zu einem beliebten Hashtag), taten einige New Yorker das, was sie noch konnten, um sich von der weitverbreiteten Unsicherheit abzulenken: Sie gingen entweder was trinken, oder sie gingen ins Kino - wenn auch nicht in allzu großer Zahl.

Die Kinos hatten gehofft, Massenschließungen zu vermeiden und
ergriffen Maßnahmen zur Verringerung des Infektionsrisikos, indem
sie an Handdesinfektionsmittelspendern aufstockten, häufiger Sitze
säuberten und Touchscreens auf Getränkeautomaten gewissenhaft
abwischten. Viele kleineren Kinos hatten den Betrieb bereits gemäß
den Empfehlungen der Regierung auf die Hälfte heruntergefahren -
etwa das Film Forum, eine New Yorker Institution im Greenwich
Village.

Am Montag, kam dann das endgültige Aus. Gouverneur Andrew
M. Cuomo gab bekannt, dass alle Kinos bis 20 Uhr geschlossen sein
müssen. Auch alle Schulen im Staat New York werden für mindestens
zwei Wochen geschlossen, sowie Restaurants und Bars. Auch die
ikonische Freiheitsstatue und das Ellis Island National Museum of
Immigration sind ab heute zu.

Die Schließungen im Kulturbereich werden für Künstler, Investoren und Häuser noch unabsehbare Schaden verursachen, aber sie können Leben retten. Bill de Blasio sagte in einem öffentlichen Statement, die Einschränkung sei notwendig, aber schwierig: "Das ist wirklich sehr, sehr schmerzhaft für die vielen, vielen Menschen, die auf diesem Gebiet arbeiten ... und es wird wirklich wie eine Art Loch in unserem Leben sein."

Um dieses Loch ein wenig zu füllen, bietet die Metropolitan Opera - die laut New York Times bis Ende des Monats mit Einbußen zwischen 8 und 12 Millionen US-Dollar rechnen muss - den Menschen, die jetzt zu Hause sitzen,kostenlos Opern zum Streamen an. Jeden Abend kann man sich hier Klassiker wie "Carmen", "La Bohème" und "La Traviata" ansehen, wenn man Abwechslung von den unzähligen anderen Streaming-Angeboten haben möchte. Wer jetzt noch mit der halbleeren U-Bahn fährt, der kann auch das ein oder andere bittersüße Lied eines Straßenmusikers hören, der Frank Sinatra singt: "That's Life."