Wir leben im Zeitalter der Digitalisierung. Man versteht darunter die Folge des Einsatzes von Computertechnik. Nichts prägt unsere Lebenswelt so sehr wie sie. Wir nutzen, wir preisen sie, und wir plagen uns damit ab. Auch viele Unternehmen sind in dieser Ambivalenz. Sie sind einerseits ratlos. Andererseits winkt ein wirtschaftlicher Erfolg, der in der Zeit vor der digitalen Transformation nicht denkbar war. Computer sind Maschinen, die unsere geistige Kompetenz erweitern und teilweise sogar ersetzen (sie erweitern unser Gehirn!), wie die Maschinen der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert die Muskelkraft erweitert und ersetzt haben. Interessanterweise ist es damals nicht zu einem Wohlstand für alle gekommen, sondern vorerst sogar zum Gegenteil.
Der enorme Vorteil durch die Rationalisierung der Arbeit führte anfangs keinesfalls dazu, dass die Mehrzahl der Menschen bei mehr Wohlstand weniger leisten mussten. Der Grund war wohl, dass sich einige wenige die neue Technologie zunutze machten, um ihre Geld- und Machtgier zu befriedigen. Das kann uns jetzt im Rahmen der Digitalisierung wieder blühen. Nach geraumer Zeit gewannen damals allerdings politische Gegenströmungen wie der Sozialismus Raum, sodass etwa bei uns eine soziale Marktwirtschaft entstanden ist. Die Konsequenz war ein gewisser Ausgleich von Macht und Geld, den man auch als soziale Gerechtigkeit bezeichnen kann.
Nun gibt es heutzutage also Gehirnmaschinen, die in Teilbereichen viel besser funktionieren, als es unser Gehirn vermag. Die dadurch mögliche Rationalisierung ist so gigantisch, dass sie von niemandem voraussehbar war. Das Merkmal, an dem wir sie alle spüren, ist die zunehmende Geschwindigkeit, der wir ausgesetzt sind. Wir sind ihr ausgesetzt, weil wir nolens volens vernetzt sind. Wir Menschen sind soziale Wesen. Das bedeutet, entweder wir sind vernetzt oder wir bringen uns in existenzielle Bedrängnis. Das soziale Netzwerk gewährt uns die Möglichkeit, unsere Bedürfnisse zu erfüllen.
Die Geschwindigkeit reißt uns alle mit
Das ist von Anfang unseres Lebens an so. Die lebensspendende Fürsorge ist schon für das Kleinkind ein Resultat gelungener sozialer Vernetzung mit den Bezugspersonen. Und so bleibt es ein ganzes Leben lang. Wir brauchen einander. Daher reißt uns die Geschwindigkeit alle mit. Kaum einer kann sich entziehen, aber manch einer wird abgehängt. Es ist wie in einer Wandergruppe, die sich nicht darum kümmert, ob die konditionell Schwächsten mitkommen. Das Tempo wird höher und höher. Einige halten es durch, andere nicht. Genau das ist die Furcht, die viele mit der Digitalisierung verbinden: dass aufgrund der zunehmenden rasanten Rationalisierung den Schwächeren, den wenig Gebildeten, den von vornherein Benachteiligten der Zugang zu lebenswichtigen und lebenssinngebenden Quellen verwehrt wird. Das sind wieder, wie früher, der bestimmende Einfluss auf persönlich relevante Themen und die materiellen Grundlagen des Lebens.
Allerdings ist heute nicht der ausgeschundene, geradezu versklavte Arbeiter das Drohbild am Horizont wie in der industriellen Revolution, sondern die arbeitslose, sinnlose Existenz ohne jede Chance der Selbstverwirklichung, die von den reichlichen Brosamen einer geradezu explosiv fortschrittlichen Gesellschaft lebt und für diesen auch noch Danke sagen sollte. Die Digitalisierungsoptimisten sagen, dass wir im Gegenteil rosigen Zeiten entgegengehen werden. Wir werden uns mit den wirklich wichtigen Dingen im Leben beschäftigen können, während uns unsere digitalen Helferlein alle unangenehmen, von uns als niedrig eingestuften Arbeiten vom Leib halten. So kann ich etwa an einem Buch schreiben oder mit meinen Kindern spielen, mit meiner Frau reden, während mein Haushaltsroboter zuerst aufräumt und dann einkaufen geht. Obwohl die Idee schön ist, schaut es derzeit nicht danach aus, als ob dieses Szenario so bald Wirklichkeit werden könnte.
Nach Hartmut Rosa, dem Soziologen aus Jena, sehen wir uns heute mit drei Beschleunigungskrisen konfrontiert: mit der Ökokrise, der Demokratiekrise und der Burnout-Krise. Die Ökokrise entsteht durch die modernen Möglichkeiten in einer globalisierten Welt, die den Ressourcenabbau derart erleichtert haben, dass er die Lebensgrundlage von uns allen auf dieser Erde ernsthaft bedroht. Der sogenannte Klimawandel ist die Konsequenz einer schweren Beziehungskrise der Menschheit mit der Natur, die ja eigentlich Teil der Natur ist. Es handelt sich um eine bedrohliche Entfremdung, bei der absurderweise mit Vehemenz von uns selbst der Ast abgesägt wird, auf dem wir sitzen.
Keine psychische Störung ist so zeittypisch wie das Burnout
Die Demokratiekrise äußert sich als Missachtung der demokratischen Werte und als Sehnsucht nach einem starken, autokratischen Führer. Diese stützen sich allesamt auf Massen, die ein Mangel an positivem Selbstverständnis und Identität eint. Sie fühlen sich von den arroganten politischen Eliten übersehen und nicht als Teil des Wirtschaftssystems, außer in der Funktion der Ausgebeuteten. Der Mangel an Verbundenheit macht sie zu einfachen Opfern von Demagogen, die ihnen mit Leerformeln die Rückgewinnung ihrer Würde versprechen. Die Verheißung ist auch dann wirksam, wenn sie nur kurzfristig oder nie eintritt. Schließlich: Keine psychische Störung ist so zeittypisch wie das Burnout. Es ist definitionsgemäß das Resultat einer Überforderung, der das Individuum kein adäquates Nein entgegensetzen kann und an der es letztlich zerbricht. Die Symptome bestehen in einer gespenstischen Lähmung der Persönlichkeit des Betroffenen.
Der Strudel der zunehmenden Beschleunigung in einer durch Digitalisierung geprägten Welt führt dazu, dass wir einander, die Natur und nicht zuletzt uns selbst zum Objekt machen. Niemand hält das aus. Denn wenn wir zum Objekt gemacht werden, werden unsere Grundbedürfnisse, allen voran die Bindung und die Freiheit frustriert. Das nennt man dann Entwürdigung. Der Mangel an Würde führt zu einer Anteilnahmslosigkeit, die unsere Kreativität und Vitalität hemmt. Diese haben auch viele Unternehmen beobachtet, ohne sich die Ursache dieses Phänomens einzugestehen, und wollen agile Organisationen entwickeln. Das wird aber nicht gelingen, da die durch die Digitalisierung mögliche totale Kontrolle und Steuerung der Menschen den Mangel an Lebendigkeit bewirkt. Krankheiten sind meist am besten zu heilen, indem man die Ursachen beseitigt.
Man ist lebendig tot
Wenn wir also zu schnell unterwegs sind im Leben, uns quasi selbst überholen, entsteht eine qualvolle Selbstentfremdung. „Ich funktioniere nur mehr“, sagen manche Menschen von sich selbst. Das ist ein schrecklicher Zustand. Krass formuliert ist man so lebendig tot. Wenn man sich nicht selbst spürt, spürt man auch den anderen nicht mehr. Das heißt: Wer sich solchermaßen selbst schadet, schadet auch den anderen. So pathetisch es auch klingen mag: Indem wir uns selbst nahe sind, die Intimität zu uns selbst wertschätzen, machen wir die Welt ein klein wenig besser, indem wir zumindest in unserem Verantwortungsbereich den „Kettenbrief“ der Entfremdung unterbrechen. Wenn das viele von uns verstanden haben, dann kann das ein nicht zu unterschätzendes Potenzial zur gesellschaftlichen Veränderung haben, quasi eine zärtliche Revolution von unten, ohne gegen etwas zu sein.
Vielen Menschen ist die Entfremdung, die durch die Beschleunigung unserer Lebenswelt entsteht, unbehaglich. Daher versuchen sie dem Strudel mit Achtsamkeit, Yoga und Meditation zu entkommen. Manchen gelingt es, für andere ist es ein Programmpunkt mehr, und das Tempo steigt. Worum es geht, ist sicherlich, in sich selbst die Sehnsucht nach Behutsamkeit, sich selbst und der Welt gegenüber zu spüren und ihr nachzugeben. So nehmen wir die Einladung zur Entfremdung nicht an und gönnen wir uns den größten Luxus, den es geben kann, nämlich den Luxus, unser eigenes Leben mit Lebendigkeit zu füllen.
Michael Lehofer