Lida Winiewicz sitzt vor ihrem beeindruckenden Bücherregal in ihrer hellen Wohnung in Wien-Wieden, verschränkt ihre feingliedrigen Hände und schaut einen mit ihren wachen Augen an, um dann so direkt, wie es auch in ihren Büchern und Stücken nachzulesen ist, zu sagen: „Man wundert sich, dass man das überstanden und überlebt hat. Man kann das schwer abschätzen und einordnen. Es war grauenhaft.“
Es. Ihn. Den Holocaust. Die Wienerin Lida Winiewicz ist eine der letzten Zeitzeuginnen dieses dunkelsten Kapitels des 20. Jahrhunderts. Ihr Geburtsjahr klingt heutzutage wie aus einer anderen Welt: 1928. Der Großvater wurde unter Kaiser Franz Josef von Krakau nach Wien versetzt, seine Frau war Jüdin. Lida Winiewicz wurde in eine offene, liberale, gutbürgerliche Familie geboren. In einem schönbrunnergelben Haus wohnte man in Hietzing – mit Kindermädchen Judy und Katze Graupi.
Das Idyll währte nicht lange. Zunächst starb die Mutter, als Lida Winiewicz ein Jahr alt war. Schon kurze Zeit später mussten die ältere Schwester und sie erfahren, was es heißt, von einem Tag auf den anderen durch die Nürnberger Rassengesetze zu zwei „Mischlingen zweiten Grades“ degradiert zu werden.
Immer mehr Dinge blieben den Mädchen verwehrt. Höhere Bildung zum Beispiel. Auf einem Schulfest wurde Lida traumatisiert. Damals wollte sie ein Schubert-Lied vortragen, durfte aber nicht. Daraufhin verlor sie ihre Stimme in den hohen Tonlagen. Diese sollten trotz gegenteiliger Prognosen von diversen Experten nie mehr wiederkommen. Der Traum einer Karriere als Sängerin blieb ihr verwehrt.
Ebenso ein Aufwachsen mit ihrem Vater. Nach dem Tod ihrer Mutter heiratete er eine Jüdin, mit der er zwar rechtzeitig nach Paris flüchtete. Von Frankreich aus aber wurde das Paar ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert – und ermordet.
In ihren Büchern hat Winiewicz klare Worte für das gefunden, was den Zeitgeschichte-Unterricht füllt. Im Roman „Der verlorene Ton“ skizziert sie auf eindrucksvolle Weise in persönlichen Worten ihre Kindheit und Jugend im Wien der Nazizeit: die Bombennächte in Luftschutzkellern, das Klammern an das Lebenselixier Musik, aber auch die ganz gewöhnlichen Alltagsprobleme. „Ich habe dann doch darüber geschrieben. Ich hatte das Bedürfnis nach Klarheit. Das Dauernd-vor-sich-hin-Schweigen ist auch nicht anständig.“ Punkt. Das Reden darüber fiel ihr schwer. Fällt ihr bisweilen immer noch schwer. „Meine Schwester und ich, wir haben nie darüber geredet, was ein Fehler war, ein großer Fehler.“ Kurze Pause. „Es war einfach zu schmerzlich, und wir haben nicht eingesehen, warum wir uns absichtlich Schwierigkeiten machen.“ Ihr Zeitzeuginnendasein nimmt sie ernst: „Es ist ungeheuer wichtig. Gerade jetzt, wenn wir einen Ex-Innenminister haben, der sagt, das Recht hat sich nach der Politik zu richten.“
Meinung
Die Novemberpogrome
Der 9. November 1938 datiert das Grauen. Während der Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden Juden im Nazi-Reich ermordet, festgenommen, fast alle Synagogen in Brand gesetzt und zerstört. Circa 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt. Während dieser Tage wurde die Vertreibung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung radikalisiert – und systematisiert.
Morgen gedenken das Parlament und das Volkstheater in einer Matinee der Novemberpogrome. Aus diesem Anlass feiert ihr autobiografischer Roman „Der verlorene Ton“ auf der großen Bühne als szenische Lesung mit Musik seine Premiere. „Aus Lida Winiewicz spricht eine der letzten Zeuginnen, ihre Erinnerungen sind von unschätzbarem Wert für die Nachgeborenen“, heißt es in der Ankündigung.
Lida Winiewicz erinnert sich „deutlich an den 10. November 1938“ – den nächsten Morgen. „Meine Mitschülerin Rene Stern kam verweint in die Schule. Das väterliche Juweliergeschäft war ausgeraubt worden. Und der Vater krankenhausreif geprügelt“, liest Winiewicz aus ihrer kurzen Rede vor, die sie im Anschluss an die Matinee im Volkstheater halten will. Jedes Wort sitzt. Keine unnötigen Schnörkel oder Lieblichkeiten.
„Es hat jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht, man konnte nichts vergleichen. Wir haben Glück gehabt in dieser Nacht. Das war alles, was ich erlebt habe.“ Pause. Und die Nachwirkungen am nächsten Tag davon.
Erst vor Kurzem erschien im Braumüller-Verlag ihr jüngstes Buch „Achterbahn – Vom Schreiben leben“. Darin berichtet Lida Winiewicz mit viel Witz von ihrem beruflichen Werdegang. „Ich habe nie etwas Besonderes daran gefunden zu schreiben“, stellt sie dazu fest. „Es hat mich in erster Linie beschäftigt, möglichst sachlich und knapp zu schreiben.“ Denn: „Ich habe schnell gemerkt, dass schlechter Stil verlogen ist.“