Bob Dylan hat in den 60er-Jahren einem „Time“-Reporter hingeschleudert, dass die Zeitung zu viel zu verlieren hätte, würde sie die Wahrheit drucken. Auf die Frage des Reporters, was denn die Wahrheit sei, sagte Dylan sinngemäß: ein einfaches Foto – etwa ein Obdachloser, der sich gerade erbricht, während man daneben Mister Rockefeller sieht, der zur Arbeit eilt. Hat Dylan recht? Ist das die Wahrheit?
Oliviero Toscani: Ja, ja, ja, er hat recht! Ein Bild kann ein Moment der Wahrheit sein – und das sagt ein Songwriter. Ich bin die gleiche Generation wie Dylan. Wir haben eine ähnliche Philosophie, eine ähnliche Art zu denken.
Die Wahrheit ist also ein einfaches Foto?
Oliviero Toscani: Ach, kommen Sie, denken Sie nicht deutsch! Ein einfaches Bild, einmal dieses, einmal jenes, manchmal ein Moment der Wahrheit. Nur bitte keinen Katalog! Aber schauen Sie sich doch um! Die neuen Technologien, diese Social Media, sind doch wie eine soziale Krankheit. Was da für ein Haufen Blödsinn passiert. Wissen Sie, wofür Facebook hilfreich ist?
Nein, wofür?
Oliviero Toscani: Um alle Idioten in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet zu haben.
Sie verachten Facebook also.
Oliviero Toscani: Ich bin nicht auf Klatsch und Tratsch angewiesen.
In einem Interview sagten Sie einmal, dass es heutzutage für eine Rolex leichter ist, überall auf der Welt zu sein, als für einen Menschen. Wie meinen Sie das?
Oliviero Toscani: Eine Rolex-Uhr kommt problemlos dorthin, wohin man sie schickt. Wenn man dunkelhäutig oder arm ist, funktioniert das nicht. Die Gesellschaft verachtet die Schwachen, sie verachtet die Armen. Mitmenschlichkeit ist in unserer Gesellschaft nicht mehr so gefragt.
Die Einwanderer auf Ellis Island im vorigen Jahrhundert wurden auch nicht mit offenen Armen aufgenommen. Vielleicht mag die Gesellschaft ja zu keiner Zeit die Armen und Schwachen?
Oliviero Toscani: Niemand sollte vergessen, dass es Flüchtlinge waren, die Amerika groß und stark gemacht haben. Aber wir sind heutzutage ja oft noch blöder als früher. Das ist in Italien nicht anders als in Österreich. In Italien gibt es immerhin keinen Matteo Salvini mehr. Und das Beste ist, dass er sich selbst ein Bein gestellt hat und aus der Regierung geflogen ist. Das ist für mich der größte Spaß.
Sie sind berühmt für Ihre provozierenden, oft auch schockierenden Fotos. Was kommt da noch?
Oliviero Toscani: Ich denke nicht, dass ich für das Schockierende berühmt bin. Ich bin berühmt für meine Arbeit.
Die manche schockiert.
Oliviero Toscani: „Manche“ interessieren mich nicht. Ich denke nicht darüber nach, was manche über mich sagen, von mir denken. Wenn jemand meine Arbeit analysiert, bin ich interessiert. Jede Kunst löst im Betrachter etwas aus. Das ist das Wesen der Kunst. Man kann sogar sagen: Je schockierender etwas ist, desto besser ist es, denn es bedeutet, dass das, was den Schock auslöst, ein Thema ist. In einem selbst oder in der Gesellschaft.
Ikonografisch sind Ihre Fotos von einem blutigen Neugeborenen, einer magersüchtigen Frau, einem Aidskranken auf dem Sterbebett. Als Sie Menschen in der Todeszelle fotografierten, war es vielen zu viel Provokation.
Oliviero Toscani: Was heißt zu viel? Wie viel ist zu viel? Wer bestimmt die Grenze? Wenn Picasso darüber nachgedacht hätte, was Menschen über seine Arbeit denken, dann wäre er nicht Picasso! Und er war der Größte im vergangenen Jahrhundert.
Sie leben nach wie vor in Italien: Wollten Sie nie weg?
Oliviero Toscani: Ich habe auch noch ein Zuhause in New York und ein Zuhause in Paris. Ich habe meinen Platz. Und dazwischen bin ich überall. Ich habe sechs Kinder von drei Frauen und ich habe 16 Enkelkinder. Und jedes Kind hat einen anderen Pass (lacht). Ich bin der Einzige, der nur den italienischen Pass besitzt.
Ihr Erfolg ist eng mit dem Modekonzern Benetton verknüpft, dessen Art-Direktor Sie von 1982 bis 2000 waren und seit fast zwei Jahren wieder sind. Sie haben den politischen Aspekt in die Modewelt gebracht. Warum ist Ihnen das wichtig?
Oliviero Toscani: Weil alles politisch ist. Selbst eine Postkarte ist politisch. Kunst ist politisch. Sogar Mode ist politisch. Es geht um die Polis, also um die Gemeinschaft, und wie man miteinander umgeht. Das ist wichtig. Für jeden.
Denken Sie wirklich, dass Sie die Einstellung der Menschen verändert haben, weil sie Aidskranke fotografiert haben, um damit Sweater und Jeans zu verkaufen?
Oliviero Toscani: Nein, natürlich habe ich nichts verändert, aber die Menschen haben sich zumindest damit beschäftigen müssen.
In nicht einmal drei Wochen könnte es zum Brexit kommen, und Großbritannien ist dann nicht mehr in der EU. Sie haben einmal gesagt, dass Europa von den Briten nur die Sprache habe, aber die Briten von Europa Pizza bekamen und Wein und Foie gras und Pinocchio. Sie sind nicht traurig, wenn die Briten raus sind?
Oliviero Toscani: Sie gaben uns die Sprache. Und Shakespeare. Ansonsten haben sie alles von uns bekommen. Außerdem bin ich mir sicher, dass die Briten eines Tages wieder zurück in die EU kommen. Keine Sorge, man muss nur warten. Niemand überlebt allein. Sie werden zurückkommen, denn ich bin mir sicher, dass sie sonst untergehen. Kein Land in Europa kann als Einzelkämpfer überleben, es braucht das Miteinander. Europa ist unvergleichlich, aber nur, wenn alle miteinander kooperieren.
Ihr Foto vom blutigen Neugeborenen wurde in Großbritannien am meisten zerzaust?
Oliviero Toscani: Ja, denn die Briten mögen Kinder nicht. Sie sehen lieber Hundewelpen. Gehen Sie doch mit einem Baby durch einen britischen Flughafen! Wie scheel man angesehen wird. Und dann machen Sie das in Mexiko: Was für eine Freude da über das Kind herrscht! Das ist wie Tag und Nacht. In südlicheren Ländern sind Kinder das Größte.
Welches Foto hat in Österreich besondere Wellen geschlagen?
Oliviero Toscani: Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, das waren die Nonne und der Priester, die sich küssen. Vielleicht auch noch die Kondome.
Was raten Sie eigentlich jungen Menschen?
Oliviero Toscani: Versucht zu lernen und bewegt euch, bewegt eure Hände. Schaltet eure Computer und Smartphones aus. Denn eure Zukunft findet ihr nicht im Computer. Setzt euch hin und denkt nach. Benutzt eure Phantasie! Das ist Zukunft.