John Kanders "Cabaret" ist ein Heiliger Gral der Musicalbühne, ein hitpralles Werk, an dessen Klippen schon so manche Inszenierung zerschellt ist. Nicht so in der Wiener Volksoper. Am Samstag feierte dort Gil Mehmerts Deutung des im Berlin der Goldenen 20er angesiedelten Stücks Premiere - als Gratwanderung zwischen politischem Zeitgemälde und lasziver Revue.
Der deutsche Musicalexperte Mehmert widersteht dabei der Versuchung, sich dem Rhythmus der Gassenhauer wie "Money, Money", "Willkommen" oder "Maybe this time" zu ergeben und auf Klamauk zu setzen. Stattdessen unterstreicht er die Janusköpfigkeit des Stücks durch zwei zentrale Spielorte, die er mittels Drehbühne als Spiegelschauplätze vereint: Den Kit Kat Club und die Pension als Wohnort der zentralen Protagonisten um den amerikanischen Schriftsteller Clifford Bradshaw und Sängerin Sally Bowles auf der einen sowie Fräulein Schneider und ihren jüdischen Verehrer Herr Schultz auf der anderen Seite.
Die schwungvolle Welt des Cabarets und die privaten Dramen sind hier zwei Seiten der gleichen Medaille: Ein Pfeifen im Walde vor dem Hintergrund des aufziehenden Nationalsozialismus, ein Abgesang auf die wilde Epoche der Roaring Twenties. Stilistisch verorten Bühnenbild und Kostüme (Heike Meixner respektive Falk Bauer) den Abend zwischen George Grosz und Totenkopf im Kit Kat Club sowie klassischem Naturalismus im Pensionsbereich. Die kleine, private Welt steht hier gegen das verruchte Pandämonium, das mit NS-Flaggen und fliegenden Swastiken immer wieder für Schockmomente sorgt und das Publikum vor die Frage stellt, ob man nach der einen oder anderen Nummer überhaupt klatschen darf.
Diese Frage stellte sich indes nie beim weiblichen Ensembletrio, gehörte der Abend doch im Wesentlichen den Damen, wurde ein Triumph der Künstlerinnen. Der an der Volksoper zuletzt als Gloria Mills in "Axel an der Himmelstür" gefeierten Münchnerin Bettina Mönch gelingt es, nicht nur in die großen Fußstapfen von Liza Minelli zu treten, sondern als Sally Bowles eigene Wege zu beschreiten. Die von Minelli als ebenso quirlig wie verletzlich geprägte Musicalfigur wird bei Mönch mit einer neuen Färbung versehen, die stimmgewaltig und näher bei Ute Lemper als der Minelli-Vorlage ist.
Die zweite herausragende Künstlerin des Abends ist Ruth Brauer-Kvam als androgyner Conferencier, die ein Zwischenwesen mit Glatze etabliert, das sich nahtlos zwischen Ragtime und Jazz sowie als omnipräsente Nachfolge von Shakespeares Puk entfaltet. Und schließlich gesellt sich zu den beiden noch Hausliebling Dagmar Hellberg als rüstiges Fräulein Schneider, die mit Stimmwucht und Melancholie für sich einnimmt. Da müssen sich die Herren wie Jörn-Felix Alt als Schriftsteller Bradshaw oder Intendant Robert Meyer als Herr Schultz mächtig ranhalten um mitzuhalten. Langen Jubel gab es am Ende aber für alle Beteiligten.
Martin Fichter-Wöß