In Ihrem Buch „Geht's noch!“ warnen Sie eindringlich vor einem aktuellen konservativen Backlash, einen Rückschritt, der Frauen wieder in alte gesellschaftliche Rollen zurückdrängt. Hat Sie der Frauenanteil der aktuellen Regierung überrascht?
LISZ HIRN: Nein, gar nicht. Es hat erfreulicherweise gezeigt, was alles möglich ist, im positiven Sinne und wenn man politischen Willen dazu hat. Allerdings ist die aktuelle Regierung eine Übergangsregierung. Der konservative Backlash ist keineswegs gebannt.
Die Frauenquote ist ein Instrument, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Wie stellt man es an, dass man diese als gerecht empfindet?
Das Problem ist, dass wir die schlechte Angewohnheit haben, dass für uns Ungerechtigkeit nur dann eine Rolle spielt, wenn wir selbst von ihr betroffen sind. Also immer dann, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen. Vielen (auch jungen) Frauen fehlt das Gefühl, dass ungleiche Bezahlung, ungleiche Verteilung der Care-Arbeit ungerecht sind. Auch, weil ihnen von vielen Seiten suggeriert wird, dass sie ja eh schon so emanzipiert sind und rechtlich gleichgestellt. Die Zahlen schauen allerdings anders aus und bestätigen die Ungleichstellung der Geschlechter. So wird bis zum Jahr 2030 kein Land der Welt die Gleichstellung der Geschlechter erreicht haben. Wenn das nicht für eine Frauenquote spricht.
Serie: Österreich neu denken
Wenn wir davon ausgehen, dass wir uns nur dann ungerecht behandelt fühlen, wenn wir selbst betroffen sind, sind Änderungen wohl schwer erreichbar. Hätten Sie ein Rezept?
Ich würde jedem, der uns ein einfaches Rezept anbietet, misstrauen. Aber Sie haben recht: Einstellungen zu ändern, ist äußerst schwer und braucht Zeit. Ein Versuch, möglichst viele Menschen mit verschiedensten sozialen und kulturellen Backgrounds abzuholen und ins Gespräch zu bringen, könnte der Ethikunterricht sein. Wenn wir wollen, dass sich zukünftig etwas ändert, dann sollten wir versuchen, die Jungen früh genug für gesellschaftliche Themen zu sensibilisieren.
Zum Thema Ethikunterricht. Es gibt ja die Befürchtung, dass durch die Migration neue, alte Rollenbilder und die Unterdrückung der Frau noch einmal zusätzlich Rückenwind bekommen.
Was man zuerst einfach feststellen muss: Zwischen islamistischen, fundamental christlichen und ähnlichen Wertkonservativen und einer immer brachialer werdenden Rechten bestehen viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Sie alle gefallen sich darin, Unterschiede zu zementieren und Hierarchien aufrechtzuerhalten. Seien es die zwischen den Geschlechtern, Gläubigen und Ungläubigen, Arbeitnehmern und Unternehmen. Gerade Gebote und Verbote, die von Religionen vermittelt werden, müssten genau auf ihren emanzipatorischen Wert geprüft werden. Denn politische Demokratisierung kann nur dann erfolgreich verlaufen, wenn auch in den privaten Beziehungen eine Emanzipierung in Gang kommt. Wenn Toleranz Intoleranz duldet, gefährdet sie schließlich nicht nur sich selbst, sondern auch die wenigen emanzipatorischen Freiheiten, die sich Frauen und Männer bislang erkämpft haben.
Sehen Sie Anzeichen dafür, dass es in naher Zukunft mehr Gerechtigkeit geben wird? Und was könnte jeder Bürger, jede Bürgerin dafür tun?
Das wird ganz davon abhängen, wie lösungsorientiert, diszipliniert und umsichtig wir Herausforderungen wie die Klimakrise und die fortschreitende Digitalisierung meistern werden. Es gibt kein Zurück in eine goldene Vergangenheit. Solche populistischen Verheißungen sind gefährlich.
Ist es in Österreich schwerer, auf Eigenverantwortung zu bestehen, und sind Österreicher autoritätshörig?
Nicht mehr und nicht weniger als alle anderen auch. Jedenfalls sollten wir die nationale Identität nicht so einfach als Ausrede gelten lassen.
Bestärken ökonomische Krisen nicht konservative Neuorientierungen, weil man sich automatisch an gesicherte Wahrheiten und Werte klammert? Und wenn man davon ausgeht, dass immer mehr Menschen in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen leben, wird dadurch eine Emanzipation nicht zusätzlich erschwert?
Zuerst einmal führt kein Weg vom Sein zum Sollen. Ja, wir stecken in vielfältigen Krisen, die wir und unser System verursacht haben. Aber diese Krisen zeigen auch Wendepunkte an. Es gäbe die Möglichkeit, jetzt anzugehen, was wir bisher versäumt haben. Zum Beispiel die Wahrung des Gleichheitsprinzips und die damit einhergehende Gleichstellung der Geschlechter. Die technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen werden diese Probleme nicht lösen. Denn selbst Algorithmen sind nicht objektiv und fair, sondern sie rechnen im Interesse der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Fragesteller und ihrer Werte. Im Übrigen bedeutet das Prinzip der Gleichheit nicht, dass wir alle in allem gleich sein müssen, sondern dass wir die Interessen aller gleichwertig abwägen müssen.
Weil Sie die „Fairness“ von Algorithmen erwähnen - läuft die Gesellschaft Gefahr, unter dem Eindruck künstlicher Intelligenz und Digitalisierung wieder zu technokratisch zu werden?
Ich denke eher, die Gesellschaft läuft Gefahr, zu glauben, dass der technische Fortschritt ihre Probleme lösen und dann auch noch für Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen wird. Aber die Technik ist von Menschen gemacht, Algorithmen werden von Menschen programmiert.
Zur Gleichheit der Interessen zwei Beispiele. Was könnte man künftig für Mütter tun, und wie bringt man Männer dazu, gegen ihre vermeintlichen Interessen zu agieren, wenn eine Emanzipation zur Folge hat, dass Frauen verstärkt als Konkurrenz am Arbeitsmarkt auftreten?
Spätestens mit dem ersten Kind wird den meisten Frauen bewusst, dass sie gegenüber Männern benachteiligt sind. Ein erster Schritt wäre: mehr Kinderbetreuungseinrichtungen, Umverteilung der unbezahlten Care-Arbeit und ein Partner, der wirklich halbe-halbe macht. Letzteres ist oft das, was am schwierigsten zu verwirklichen ist. Selbst die konservativsten Männer werden schwer dagegen argumentieren können, dass wir alle wesentliche Interessen teilen - Nahrung, Obdach, Schmerzen zu vermeiden, den Wunsch, unsere Fähigkeiten zu entfalten. Was sie zu konservativen Brandstiftern macht, ist aber, dass sie bestreiten, dass die Interessen aller gleich viel wert sind.
Was müsste man zuallererst ändern, um emanzipatorische Bewegungen zu unterstützen?
Die einen kritisieren an den bisherigen Emanzipationsbestrebungen, dass sie nicht nur Geschlechterhierarchien, sondern alle Grenzlinien aufgelöst hätten. Die anderen sehen sie verkürzt ausschließlich für Frauenanliegen eintretend, obwohl es ja genug Männer gibt, die auch in prekären oder ausbeuterischen Verhältnissen leben müssen. Aber da sind die Emanzipationskritiker auf einem Auge blind. Die Interessen der einen bedingen die der anderen. Emanzipation ist nie nur Sache des Einzelnen, sondern immer eine des Kollektivs.