Ziel war das Ziel – wer im Mittelalter pilgerte, wollte vor allem eins: am Wallfahrtsort für sich und die Daheimgebliebenen um Heil und Segen bitten. Der Weg dorthin wurde als Mittel zum Zweck gesehen.
Während die ersten Christen keine Verehrung von Gedächtnisstätten kannten, führte Kaiserin Helena von Konstantinopel im vierten Jahrhundert mit ihrer Reise ins Heilige Land und dem legendären Auffinden vom Kreuz Christi dies auch für das Christentum ein. Neben Jerusalem, dem Ort von Tod und Auferstehung Jesu, wurde in der Westkirche vor allem Rom und das Grab des Apostels Petrus zum Pilgerziel. Petrus hatte der Tradition nach in der damaligen Hauptstadt des Römischen Reiches die erste christliche Gemeinde gegründet.
Im Mittelalter kam mit Santiago de Compostela das Grab des Apostels Jakobus dazu. Er soll die Frohbotschaft bis „ans Ende der Welt“ getragen haben. Politische und religiöse Umbrüche führten später dazu, dass die Orte nicht mehr besucht werden konnten (im 11. Jahrhundert eroberten Muslime Jerusalem) oder in Vergessenheit gerieten – wie Santiago.
Doch das sollte sich grundlegend ändern: Als der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho gegen Ende der 1980er-Jahre den Roman „Der Jakobsweg“ veröffentlichte, löste er damit einen Pilgerboom sondergleichen aus – der bis heute kein Ende nimmt. Coelho erzählt darin von seiner Mitgliedschaft bei einer Bruderschaft, die ihn nach Nordspanien schickt, um dort Herausforderungen zu meistern, Demut zu lernen und so innerlich zu reifen.
Sein Leben reflektieren, die Stellschrauben des eigenen Lebens neu justieren, sich selbst (wieder) näherkommen – diese Gründe nennen auch jene Menschen, die sich seit damals auf den Weg machen. „Wer sein Lebenstempo, zumindest auf Zeit, auf Gehgeschwindigkeit herunterfährt, gibt der Seele die Möglichkeit, einen wieder einzuholen“, ist Peter Lindenthal überzeugt. „Jeder Mensch hat einen materiellen und einen spirituellen Anteil in sich. Pilgern gehört zum Menschen wie Essen und Trinken.“ Der Tiroler kundschaftet seit Mitte der 1990er-Jahre die alten Jakobswege in Österreich aus und gibt Pilgerführer heraus.
Das österreichische Pilgernetz umfasst mittlerweile 20.000 Kilometer, ergab zuletzt eine Recherche der Katholischen Presseagentur. Und es gibt Trends innerhalb des Trends: Pilgern in den Bergen – wie etwa auf dem Osttiroler Weg „hoch und heilig“, der über Lavant und Innichen nach Heiligenblut führt. Aber auch kürzere Wege wie der Mühlviertler Johannesweg, die Pilger innerhalb weniger Tage zurücklegen können, werden immer beliebter, weiß Roland Stadler, Leiter der Tourismuspastoral der Diözese Gurk-Klagenfurt und Sprecher des Netzwerks „Pilgern in Österreich“. Sind Start und Ziel des Pilgerweges am selben Ort, schafft das bei der Auswahl des Pilgerweges ebenso Bonuspunkte. Wobei Petra Stolba von der Österreich-Werbung ergänzt: Der Trend geht Richtung Radpilgern.
Immer öfter lassen sich Menschen auch von Pilgerbegleitern auf den (oft auch im übertragenen Sinn) ungewohnten Pfaden führen.
Doch egal, ob zu Fuß, per Rad oder vielleicht auch zu Pferd: Wie im Mittelalter nehmen viele in einem Kloster Quartier – und das nicht nur wegen der meist geringeren Kosten: Wer auf dem Weg in sein Inner(st)es ist, geht diesen lieber in spiritueller Umgebung als in einem Hotelzimmer.
Einfachheit suchen die meisten Pilger im umfassenden Sinn oder wie es der Theologe Georg Plank einmal ausdrückte: „Heute leiden die meisten nicht unter einem Zuwenig, sondern stöhnen unter dem Zuviel. Es quält nicht das Zulangsam, sondern das Zuschnell. Es mangelt nicht an Mobilität, sondern am Selbergehen. Und am Spurenhinterlassen.“
Dieses Beschränken auf das Wesentliche machte sich auch Don Johannes Maria Schwarz zum Ziel, wie er zuletzt im „Sonntagsblatt“-Interview ausführte: „Beten, Gehen, Essen, Schlafen, Begegnung mit Gott und den Menschen.“ Der Priester pilgerte insgesamt ein Jahr und 14.000 Kilometer nach Jerusalem und wieder zurück. Persönliche Unwegsamkeiten inbegriffen: „Auf so einem langen Weg lernt man sich selbst und die eigenen Schwächen ganz neu kennen.“
Wie sich sein Leben seit dem Jerusalemweg verändert hat, erzählt David Zwilling in seinem im Frühjahr erschienenen Buch „Aufbruch zu mir selbst“. Der Abfahrtsweltmeister von 1974 hatte sich 2010 gemeinsam mit zwei weiteren Salzburgern auf den Weg in die heilige Stadt dreier Weltreligionen gemacht. Nicht nur das Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein, auch die Begegnung mit Menschen anderer Kulturen und Religionen prägt Zwilling bis heute. Seine Erkenntnis: „Wir sind alle Brüder und Schwestern.“