Virtuell durch die Baugeschichte des Wiener Stephansdoms reisen oder in das historische Leben niederösterreichischer Dörfer eintauchen - das soll künftig mit neuen Technologien für jedermann möglich werden.
"Die Vergangenheit Europas hatte noch nie eine derartige Perspektive", so der Präsident des internationalen Archivnetzwerkes ICARUS und "Time Machine"-Mitinitiator, ThomasAigner, im Gespräch mit der APA. Gerade Europa strotze an historischen Daten, die vielfach bereits gut durch Wissenschafter aufgearbeitet wurden. Mit neuen Möglichkeiten, die Digitalisierung, Big Data-Analysen, Künstliche Intelligenz (KI) und Computervisualisierung mit sich bringen, könnte dieser Wissensschatz nun besser gehoben und gleichzeitig auch für Nicht-Experten anschaulich zugänglich gemacht werden, zeigte sich Aigner überzeugt.
Dass es das ambitionierte Vorhaben unter die letzten sechs Kandidaten im Rahmen der EU-Flagship-Initiative geschafft hat, sei überaus erstaunlich - vor allem, da das Programm bisher große Vorhaben in den Bereichen Gehirnforschung und IT, Materialforschung und Quantenphysik großzügig unterstützt hat. Am Freitag startet das eher aus dem historisch, geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich kommende Projekt nun mit einer Förderung von einer Million Euro in eine einjährige Phase, in der ein detaillierter Plan für die nächsten zehn Jahre entwickelt wird, für dessen Umsetzung im besten Fall eine Milliarde Euro zur Verfügung stünde.
Schon alleine, dass der derzeit 233 Partner umfassende Verbund so weit gekommen ist, ist für Aigner ein "historisches Ereignis" für den Bereich, dem mitunter der Ruf anhaftet, beim Projektmanagement und Einwerben von Drittmitteln den Naturwissenschaften hinterherzuhinken. Zum erstem Mal habe man es in Europa geschafft, eine breite Allianz zwischen der Wissenschaft, wichtigen Kulturerbe-Institutionen und der Industrie zu schmieden. Mit dabei ist beispielsweise der Computerspieleentwickler Ubisoft, der etwa mit der Assassin's Creed- oder der Far Cry-Spielereihe große Erfolge feiert. Mit ICARUS, der Nationalbibliothek und der Technischen Universität (TU) Wien kommen etwa zehn Prozent der Gründungsmitglieder aus Österreich, darüber hinaus gibt es aktuell rund 30 weitere Partner aus ganz Österreich.
Geleitet wird das Flagship-Projekt von einem Team um FredericKaplan von der EPFL Lausanne, der seit einigen Jahren die erste "Time Machine" für Venedig entwickelt. Die Idee dahinter ist es, nicht nur alle venezianischen historischen Dokumente zu digitalisieren, sondern die Informationen auch zu verlinken. Aus diesem vernetzten Informationspool können dann Computersimulationen gespeist werden. Denkbar sei etwa, ganze Straßenzüge auf Basis von historischen Abbildungen im Rechner entstehen zu lassen und Informationen über deren Bewohner oder die einzelnen Gebäude per Mausklick abrufen zu können.
Vor zehn Jahren seien solche Visionen noch belächelt worden, mittlerweile sei das anders. Bisher war auch der Zugang zu historischen Daten zeitaufwendig und mühsam. Wenn nun aber all das mittels KI aufgearbeitet werden kann, "werden diese historischen Daten ein Potenzial entfalten, wie wir es uns jetzt nicht vorstellen können. Wir nehmen jede Barriere zu historischer Information", so Aigner. Als Archivar bekomme er bei solch einer Vorstellung eine "Gänsehaut".
Der ICARUS-Präsident, der Mitglied des Management-Boards des Großprojekts ist, baut derzeit auch eine neue Einrichtung mit Sitz in Wien auf. Über die "Time Machine Organisation" soll das Vorhaben auch weiterentwickelt werden, falls 2020 die Flagship-Förderung nicht zustande kommt. Sie könnte auch die Koordination übernehmen, wenn die EU-Förderung nach zehn Jahren ausläuft.
Schon heuer erfolgt der Startschuss zur Entwicklung zweier "Zeitmaschinen" in Wien und Niederösterreich. Auf Basis der umfassenden Forschungsarbeiten unter der Leitung der Kunsthistorikerin Barbara Schedl in den vergangenen Jahren zur Baugeschichte des Stephansdoms soll eine virtuelle "Time Machine" zum Wiener Wahrzeichen entstehen. Neben ICARUS und der TU ist etwa die Erzdiözese Wien an dem Vorhaben beteiligt. In den Simulationen will man nachzeichnen, wie sich der Dom entwickelt hat, wer welchen Altar gestiftet oder gebaut hat und wie die handelnden Personen ab dem Mittelalter miteinander in Verbindung standen. Um den Dom in all seinen Bauphasen nachzubauen, müssen neben der grafischen Aufarbeitung und der technischen Umsetzung u.a. "die Werkzeuge gebaut werden, die die verzweigte Informationen in Beziehung setzen", so Aigner. Im Rahmen eines Pilotprojekts in Niederösterreich will man künftig auch kleineren Gemeinden die Infrastruktur für Simulationen ihres Dorfes zur Verfügung stellen.