Sie haben als (Halb-)Bruder von Thomas Bernhard und dessen Nachlassverwalter viel zu tun in diesen Tagen.
PETER FABJAN: Das war zu erwarten. Er war ja kein lokaler oder regionaler Autor, obwohl er gerade als solcher gefeiert wurde: „Der Dichter zu Nathal“ war eh recht nett. Plötzlich ist er der liebe Ohlsdorfer. Und in einem neuen Film über Thomas Bernhard präsentieren sich die Ohlsdorfer auch. Das ist eher peinlich.
Wir begehen den 30. Todestag, jetzt wird Ihr Bruder gewürdigt. Kurz vor seinem Tod, nach der Aufführung von „Heldenplatz“ 1988, wurde er attackiert – nicht nur verbal.
PETER FABJAN: Wir waren in Wien auf dem Friedhof unterwegs und er wusste, dort wird er auch bald liegen. Und er wurde dort angespuckt und sogar mit einem Schirm angegriffen. Und im Türkenschanzpark sind wir auf einer Bank gesessen, der Bruder konnte eh kaum mehr gehen. Plötzlich kommt ein Mann mit seinem Hund vorbei und sagt: „Wenn mein Hund wüsste, wer Sie sind, würd er kurzen Prozess mit Ihnen machen.“
Und jetzt, nach drei Jahrzehnten, die großen Wertschätzungsrituale.
PETER FABJAN: Na ja, bereits nach seinem Tod gab es weltweite Reaktionen und Beileidsbekundungen, die in Österreich Erstaunen ausgelöst haben. Aus Frankreich zum Beispiel habe ich ein Beileidsschreiben vom damaligen Präsidenten Mitterand bekommen. Bis zu einem gewissen Grad war das verständlich, denn dieses Land, Österreich, hat er ja attackiert. Wenn er in Frankreich gelebt hätte, wäre vermutlich kein Schreiben gekommen. Attackieren Sie einmal die Grande Nation! Aber dieses Attackieren war essenziell für meinen Bruder. Er hat immer gesagt: „Um schreiben zu können, brauche ich Widerstand.“ Da hat er sich halt Gegner erkoren. Das waren Einzelpersonen oder ein ganzer Staat. Das Land selbst hat er geliebt und sogar verteidigt, aber den Staat Österreich hat er gebraucht, um sich daran zu reiben.
Und der Staat hat natürlich reagiert auf diese Attacken.
PETER FABJAN: Ja, und das war für ihn wiederum ideal, dass „der Staat“ auf diese Angriffe eingestiegen ist. Nur wer gscheit war, hat hinter die Fassaden geschaut und dort nicht nur den Schimpfer und Provokateur gesehen. Bruno Kreisky zum Beispiel ist auf die Bernhard-Attacken nicht eingegangen. Er hat gesagt: „Wenn’s seiner Gesundheit guttut, soll er halt schimpfen.“
Ihr Bruder wollte mit der Provokation und der Übertreibung, die er zur literarischen Kunstform erhoben hat, aber vor allem Aufmerksamkeit, nicht wahr?
PETER FABJAN: Natürlich, wie jeder Künstler. Er wollte Aufmerksamkeit, Anerkennung und auch Zuwendung. Ich möchte sogar so weit gehen, zu sagen, dass er im Schreiben und mit dem Schreiben Liebe gesucht hat. Das war ja sein Grundproblem: Dass ihm all das – Aufmerksamkeit, Anerkennung, Liebe – in seiner Kindheit gefehlt hat. Das war aber auch eine schicksalhafte Entwicklung, da kann man niemandem die Schuld geben, weder unserer Mutter noch meinem Vater.
Wie ist Ihr Bruder mit der Ablehnung und dem Hass, die ihm in diesem Land entgegenschlugen, umgegangen?
PETER FABJAN: Das hat ihn getroffen. Vor allem in seinen letzten Lebensmonaten, als er dem keifenden Boulevard ausgesetzt war. Kaum jemand hat verstanden, dass das Attackieren nicht Mittel zum Zweck war, sondern sein literarisches Lebenselixier. Mein Bruder musste von früher Kindheit an erleben, dass er nicht gewollt war, er hätte gar nicht auf der Welt sein sollen. Dabei darf man aber auch nicht die schwierige Rolle unserer Mutter vergessen. Deren Existenzberechtigung war es, für ihren Vater, den Dichter Johannes Freumbichler, Geld zu verdienen. Das war auch einer der Gründe, warum sie ihr Kind, also den Thomas, in ein Heim geben musste. Dort durfte sie ihn nur einmal in der Woche sehen. Sehen, nicht berühren. Das war nicht erlaubt. Und das war ein furchtbarer Zwiespalt für unsere Mutter: Sie durfte ihren Vater finanziell nicht verhungern lassen, hat dafür aber ihr Kind emotional ausgehungert. Daraus hat mein Bruder eine Grundbeschädigung davongetragen. Eine Beschädigung, die letzten Endes der Grund und die Ursache für sein Schreiben war. Mein Bruder hat versucht, in der Gesellschaft Anerkennung zu finden. Er hat in seinen Büchern gesagt: „Schaut her, ich bin auch da!“ Er wollte etwas hinterlassen, weil das Schlimmste für ihn war, wieder ohne Spuren aus dieser Welt zu gehen.
Thomas Bernhard hat also nach etwas gesucht, was die meisten von uns nicht missen möchten: Aufmerksamkeit, Anerkennung und letzten Endes Liebe?
PETER FABJAN: Ja! Und das in einem Übermaß. Normale Zuneigung hat ihm nicht genügt.
Hat er auch Bewunderung gesucht?
PETER FABJAN: Nein, das nicht. Er hat immer gesagt: „Ich will nicht bewundert werden, nur respektiert.“
Er wollte also den Respekt eines Landes bzw. Staates, den er unter Dauerbeschuss hielt.
PETER FABJAN: Richtig. Und wenn jemand auf sein Toben reagiert hat, hat er sich gefreut und gesagt: „Der ist mir in die Falle gegangen.“ Das war aber nur die Oberfläche. Dahinter lag natürlich der reine Künstler, der alles daran gesetzt hat, Bleibendes zu schaffen. Er hat gespürt – zu Recht – dass er mit seiner Art des Schreibens etwas ganz Eigenständiges und Unvergleichliches geschaffen hat.
Thomas Bernhard ist am 12. Februar 1989 gestorben. Sie haben Ihren Bruder bis zuletzt begleitet. Hatte er Angst vor dem Tod?
PETER FABJAN: Aber selbstverständlich hatte er Angst vor dem Tod. Sein Herz ist über die Jahre immer schwächer geworden, zuletzt konnte er kaum noch die Stufen zu seinen Häusern hochgehen. Er wollte noch nicht aus der Welt gehen, wollte noch etwas, noch mehr hinterlassen. Das Loslassen ist ihm sehr schwergefallen. Er hat gekämpft bis zum letzten Tag. Er ist sogar noch ins Kaffeehaus gegangen, dort konnte er die Zeitung kaum noch halten. Aber er wollte dorthin, um gesehen zu werden. Er wollte damit sagen: Ich bin noch hier! Mein Bruder hat ja trotz seiner lebenslangen Krisen leidenschaftlich gerne gelebt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie er nach einer gelungenen Inszenierung in Salzburg zu mir gesagt hat: „Jetzt könnte ich heulen vor lauter Glück.“
Können Sie sich noch an seine letzten Worte erinnern?
PETER FABJAN: Er hat gesagt: „Ich hab mich halt durchgesetzt.“ Das hat für mich ein wenig wie nach einer Entschuldigung geklungen. Man darf ja nicht vergessen, dass er uns, der Familie, und auch allen anderen, mit denen er zu tun hatte, viel zugemutet hat. Aber gleichzeitig hat in diesem Satz auch der Triumph durchgeklungen.
Hatte die Angst vor dem Tod auch mit der Furcht vor der Möglichkeit eines ewigen Nichts zu tun?
PETER FABJAN: Aber sicher. Wobei er den Glauben der anderen absolut respektiert hat. Er hat einmal gesagt: „Die Religion ist eine grandiose Poesie, aber mir ist sie kein Trost.“
Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrem Bruder bezeichnen?
PETER FABJAN: Schwierig! Wir haben in zwei völlig verschiedenen Welten gelebt. Ich habe als Arzt in der absoluten Realität gelebt, er in seinem geschriebenen und erschriebenen Universum. Wobei mein Bruder selbst das Verhältnis zwischen uns als ideal bezeichnet hat. Eben deshalb, weil wir so verschieden sind und ich ihm in keinster Weise in die Quere kommen konnte.
Wie nahe waren Sie Ihrem Bruder?
PETER FABJAN: Dazu muss man wissen, dass dem Bruder Nähe, auch körperliche, nicht möglich und erträglich war. Er hat mir die Hand gegeben, aber selbst das war ihm unangenehm. Der Lebenskonflikt meines Bruders war, dass er die Nähe zu den Menschen gesucht hat – diese Nähe ihm gleichzeitig aber nicht möglich war. Aus diesem elementaren Lebensunglück hat er sich mit dem Schreiben gerettet.
Was, glauben Sie, würde Thomas Bernhard zu den aktuellen politischen Verhältnissen in Österreich sagen bzw. schreiben?
Freude hätte er keine mit diesen Verhältnissen. Und er würde wohl sagen: „Ich hab eh alles vorhergesehen.“
Wie ergeht es Ihnen selbst mit der Rolle, der Bruder und Nachlassverwalter von Thomas Bernhard zu sein?
PETER FABJAN: Ich bin auch schon 81 Jahre alt und spüre das Nachlassen meiner physischen und psychischen Möglichkeiten. Mein Bruder hat zwar keine Nähe ertragen, Menschen aber sehr vereinnahmt. Und ich war in den letzten zehn Jahren seines Lebens sein Medicus. Mein Bruder war oft schwer zu ertragen. Seine Attacken, seine Wutausbrüche. Ich wusste zwar, dass er das brauchte, dass das seine lebenserhaltende Medikation war, aber so einen Menschen muss man erst einmal aushalten. Mein Bruder wollte die Menschen immer so sehen, wie sie wirklich sind. Ohne Schminke, ohne Small Talk, das war ihm verhasst. Um an diese Echtheit, an diese Wahrheit zu gelangen, ist er den Menschen auf die Zehen gestiegen. Und im Aufschrei der anderen hat er das eigene Leben gespürt. Lesen Sie in „Auslöschung“ nach, dort gibt es viele sehr biografische Stellen. Eine Figur sagt zum Beispiel: „Ich erfriere von innen heraus.“ Und mein Bruder hat öfter zu mir gesagt: „Meine Krankheit ist die Distanz.“